Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 81 
Bundesstaat dazu befähigt ist. Aber es ist nicht notwendig, daß der 
Bundesstaat von dieser Befähigung überall und in allen Richtungen 
Gebrauch macht; er hat vielmehr die Wahl, ob er selbst für die 
Durchführung der Gesetze und die Verwaltung sorgen oder ob er die- 
selbe den Einzelstaaten überlassen oder übertragen will !). 
5. Im Gegensatz zu der bis zur Gründung des Deutschen Reichs herr- 
schenden Theorie hat Hänel, Studien I, S. 63 fg. eine neue Begriffs- 
bestimmung des Bundesstaates gegeben und in seiner Abhandlung in 
Hirths Annalen 1877, S. 82 fg. und Staatsrecht $ 31 festgehalten. Er 
erklärt sich gegen die Teilung der Souveränität, gegen die mechanische 
Zerreißung der staatlichen Aufgaben durch eine Kompetenzlinie, auf 
deren einer Seite die Bundesgewalt, auf deren anderer Seite die Einzel- 
staatsgewalt herrsche, als gingen sie einander nichts an. Den Begriff 
des Staates findet er »weder in dem Bundesstaat noch in dem Einzel- 
staat, noch gleichzeitig in den beiden in ihrer Sonderstellung 
betrachtet, sondern nur in dem organischen Miteinander 
und dem planmäßigen Zusammenwirken beider«. »Nicht der Einzel- 
staat, nicht der Gesamtstaat sind Staaten schlechthin, sie sind nur nach 
— 
1) Der Vorwurf, den viele neuere Schriftsteller gegen diese Darstellung erhoben 
haben, daß es inkonsequent sei, eine mittelbare Beherrschung der Untertanen 
durch das Reich und gleichzeitig die unmittelbare Verbindlichkeit der Reichs- 
gesetze und der Anordnungen der Reichsbehörden auf den zur eigenen Verwaltung des 
Reiches gehörenden Gebieten anzunehmen, scheint mir nicht begründet zu sein. Es 
ist doch kein Widerspruch, daß der Soldat seinen unmittelbaren Vorgesetzten in 
seinem Hauptmann hat und doch den Anordnungen und Befehlen eines höheren Vor- 
gesetzten unmittelbar Folge zu leisten verpflichtet ist. Es war doch auch im früheren 
Deutschen Reich, für welches die Unterscheidung der reichsunmittelbaren und der 
mittelbaren Untertanen gar keinem Zweifel unterliegt, mit dieser Gliederung verein- 
bar, daß die Reichsgesetze unmittelbare Verbindlichkeit für alle Reichsangehörigen 
hatten und die Urteile des Reichsgerichts auch für mittelbare Personen unmittelbar 
rechtskräftig waren. Die mittelbare Unterordnung der Einzelnen unter das Reich 
will nur bedeuten, daß sich die Reichsgewalt regelmäßig an die Einzelstaaten 
wendet und durch deren Vermittlung Land und Leute beherrscht. Auch die herr- 
schende Ansicht ist vor dem Vorwurf der Inkonsequenz schlecht gewahrt. Nach der- 
selben ruht der Bundesstaat sowohl auf den Gliedstaaten als auch auf den einzelnen 
physischen Untertanen; er beherrscht die letzteren teils direkt, teils durch Vermitt- 
lung der Gliedstaaten. G. Meyer, Staatsrecht, 814; Schulze, Deutsches Staats- 
recht II, S. 23fg.; Brie, Staatenverbindungen S. 113fg. u. A. Er hat also gleich- 
sam ein langes und ein kurzes Bein; das erstere reicht hinab bis zum Volk, das an- 
dere stützt sich auf die Gliedstaaten, die ihrerseits auf dem Volke ruhen. Soweit 
die letztere Gestaltung im Bundesstaat verwirklicht ist, tritt sofort die mittel- 
bare Untertanenschaft der einzelnen zutage. Die ganze Kontroverse ist demnach 
ohnealle praktische Bedeutung; nimmt man die direkte Reichsuntertanen- 
schaft an, so muß man zugeben, daß die Herrschaftsrechte des Reiches auch durch 
Vermittlung der Einzelstaaten geltend gemacht werden können; geht man von der 
mittelbaren Untertanenschaft aus, so muß man dies durch den Satz ergänzen, daß 
das Reich dadurch nicht gehindert wird, auch unmittelbar die Einzelnen durch seine 
Herrschaftsakte zu ergreifen. Vgl. auch unten 8 14 und meine Erörterung im Ar- 
chiv £. öffentl. Recht I, S. 319.
	        
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