8 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 85
staaten, auch von der Summe derselben, verschiedene Einheit erkennt').
Nur darf man diesen Gedanken nicht in den Unsinn verkehren, als
ob der enge Zusammenhang zwischen der Existenz und dem gesamten
Wirkungskreis des Reiches und der Einzelstaaten negiert werden sollte.
Die logische Trennung der individuellen Persönlichkeit des Reiches
von derjenigen der Einzelstaaten dient vielmehr gerade dazu, um die
engen Rechtsbeziehungen zwischen beiden zu begreifen und auf ein-
Heitliche Regeln zurückzuführen. Der Satz, daß man sich das Reich
als ein von den Gliedstaaten getrenntes Rechtssubjekt vorstel-
len müsse, darf nicht dahin entstellt werden, daß man sich vorstellen
solle, das Reich könnte tatsächlich getrennt von den Gliedstaaten als
besonderes Wesen existieren. Die Abstraktion, welche Reich und
Gliedstaaten voneinander isoliert und beide einander als Individuen
gegenüberstellt, verträgt sich vollkommen mit der engen und unlös-
lichen Verbindung, welche zwischen ihnen besteht, und nur denjenigen,
welche in der naiv-sinnlichen Betrachtungsweise befangen und der
geistigen Arbeit mit logischen Begriffen nicht mächtig oder nicht ge-
wöhnt sind, kann man die Meinung beibringen, daß diese Abstraktion
mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruch stehe. Dagegen
ist es mit dem Begriff der Persönlichkeit, den Gierke selbst (S. 1125)
für das Staatsrecht als den Mittelpunkt aller juristischen Konstruktion
anerkennt, unvereinbar, sie in Teile zu zerlegen, die ebenfalls wieder
Personen sind; denn dadurch wird der Gesamtverband aus einer Ein-
heit zu einer Summe von Einheiten degeneriert, d. h. seine Persön-
lichkeit aufgehoben ?). Es ist demnach nicht zu verwundern, daß Gierke
1) Gierke sagt a. a. O. S. 1128, „daß die Möglichkeit eines öffentlichen Rechts
damit steht und fällt, daß ein Ganzes und seine Teile, ohne hierbei aus dieser ihrer
Zusammenordnung herauszutreten, als einander berechtigte und verpflichtete Subjekte
erscheinen“. Er fügt selbst hinzu, daß dies „dem privatrechtlichen Denken unfaßlich
sein muß“. Es gibt aber keine Besonderheiten des „privatrechtlichen“ Denkens;
vielmehr ist die von Gierke aufgestellte Möglichkeit jedem Denken unfaßlich. Denn
wenn man sich einander berechtigte und verpflichtete Subjekte vorstellt, so ist es
eine damit unvereinbare Vorstellung, daß eines derselben ein Teil des anderen sei;
jedes Subjekt ist begriffsmäßig ein Ganzes. Wenn man sich die Gliedstaaten als
Teile des Bundesstaates vorstellt, dann abstrahiert man von ihrer Eigenschaft als
Subjekte; wenn man sie sich aber dem Bundesstaat gegenüber als berechtigte und
verpflichtete Subjekte vorstellt, dann abstrahiert man von ihrer Eigenschaft als Teile
desselben. Beide Vorstellungen sind, jede für sich zulässig und unentbehrlich; un-
möglich aber ist es, beides in Einer Vorstellung zu verbinden und den Gliedstaat
als Teil und Nichtteil des Bundesstaates zugleich zu denken. Der „Teil“ ist die Ne-
gation, das „Rechtssubjekt“ die Position einer besonderen Individualität. Preuß,
welcher ganz auf dem Boden der Gierkeschen Auffassung steht, sucht dies S. 160 ff.
vergeblich zu widerlegen, indem er — wie Gierke selbst — den Gegensatz von Teil
und Mitgliedschaft verwischt und diese beiden sich ausschließenden Vorstellungen
durcheinander wirft.
2) Dieses Bedenken gegen Gierkes Theorie regt auch Zorn, Hirths Annalen
1884, S. 482 an, er begnügt sich aber, es als eine „noch offene kritische Frage“ zu
bezeichnen. Gegen Gierke erklären sich auch Stöber, Archiv I, S.635 fg., Borel