S 9. Die rechtliche Natur des Reiches. 39
nis der Souveränität für den Staatsbegriff fest; ihm erscheint die Unter-
ordnung eines Staates unter eine andere, höhere Staatsgewalt als un-
möglich und er gelangt daher zu der Alternative: Entweder die Ver-
einigung sei ein Staat, dann hören die vereinigten Staaten auf, es zu
sein; oder die vereinigten Staaten bleiben Staaten, dann könne die
Vereinigung kein Staat, sondern nur ein Staatenbund sein. Da nun
in der Reichsverfassung die Bundesglieder ausdrücklich als Staaten
anerkannt werden, so sei damit der staatliche Charakter des Reiches
verneint. Dieses Argument verliert seine Bedeutung, wenn die oben
S. 64 fg. gegebene Ausführung, daß die Souveränität kein Wesentliches
Erfordernis des Staatsbegriffes ist, für richtig anerkannt wird.
Seydel beruft sich ferner auf die Entstehung des Norddeutschen
Bundes und des Reiches durch einen Vertrag der deutschen Staaten.
Diese Beweisführung ist bereits von Hänel!) in so trefflicher Weise
widerlegt worden, daß seinen Ausführungen kaum etwas wesentliches
hinzugefügt werden kann. Die Entstehungsgeschichte des Norddeut-
schen Bundes läßt, wie oben?) ausgeführt worden ist, eine andere Auf-
fassung nicht zu als die, daß durch die Errichtung des Norddeutschen
Bundes der Vertrag vom 18. August 1866 erfüllt wurde. Damit
hörte das vertragsmäßige Verhältnis auf und die staats-
rechtliche Organisation trat an seine Stelle.
Auch aus den Vorgängen bei Gründung des Deutschen Reiches
ist nichts zu entnehmen, was für ein vertragsmäßiges Verhältnis der
Mitglieder zu einander in das Gewicht fiele. Die Novemberverträge
begründeten allerdings vertragsmäßige Rechte und Pflichten der Kon-
trahenten; aber der Inhalt derselben bezog sich nur auf den Eintritt
und die Aufnahme der süddeutschen Staaten in den unter den nord-
deutschen Staaten bereits bestehenden Bund. Mit dem erfolgten Ein-
tritt waren diese vertragsmäßigen Rechte und Pflichten durch Erfül-
lung erloschen 3). Jedenfalls wurde das für die norddeutschen Staaten
bereits bestehende Bundesverhältnis nicht in seiner rechtlichen Natur
verändert, sondern nur erweitert; hatte daher der Norddeutsche Bund
den Charakter eines Staates, so kommt derselbe auch dem zum Deut-
schen Reiche erweiterten Bunde zu®). Endlich wird die Annahme,
daß die Absicht der vertragschließenden Teile auf die Begründung eines
völkerrechtlichen Verhältnisses von fortdauernd vertragsmäßigem Cha-
rakter gerichtet war, durch die Tatsache widerlegt, daß die definitive
tungen S. 136; v. Müller in der Krit. Vierteljahresschr. Bd. 24 (1882), S. 598; Graß-
mannin Hirths Annalen 1898, S. 720 ff. und in der Krit. Vierteljahresschr. Bd. 40,
S. 269 fg.; Rehm in Hirths Annalen 1885, S. 66 fg., der seine Ansicht jetzt aber ge-
ändert hat. Siehe seine Allgem. Staatslehre S.117, 127 ff. Auch Otto Mayer steht
dieser Ansicht mindestens sehr nahe; wenigstens betont er den föderalistischen Cha-
rakter des „monarchischen“ Bundesstaats sehr stark. Vgl. seine Abhandlung im Arch.
f. öff. R. Bd. 18 S. 337 ff.
1) Studien I, S. 3lfg., 68 fg. 2) S. 15 fg.
3) Siehe oben S. 18, 45 fg. 4) HänelS. 79 fe.