Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs. 107 
Verordnungen können ebensowenig wie Gesetze Rechtsvorschriften auf- 
stellen, die bald gültig, bald ungültig sind. 
Die für eine Rechtsordnung erforderliche gesetzliche Delegation 
muß sowohl das Subjekt bestimmen, von welchem die Verordnung 
erlassen werden soll, als das Objekt, worauf sie sich erstrecken darf. 
Demgemäß ist auch die Prüfung der Rechtsgültigkeit einer Verordnung 
auf beide Punkte zu erstrecken). 
1. Aufdas Subjekt. Es ist zu untersuchen, ob die Verord- 
nung von demjenigen Organe erlassen ist, welches dazu reichsgesetzlich 
ermächtigt worden ist. Istim Gesetz eine kaiserliche Verordnung ver- 
langt, so kann sie nicht durch eine Verordnung des Bundesrates ersetzt 
werden, und ebensowenig umgekehrt ?). Ist die Verordnung einem 
Organ des Reiches übertragen, so sind Ausführungsverordnungen der 
Einzelstaaten rechtsunwirksam und andererseits kann die durch Gesetz 
begründete Befugnis der Einzelstaaten zum Erlaß von Ausführungs- 
verordnungen nicht dadurch beseitigt werden, daß der Kaiser oder der 
Bundesrat oder der Reichskanzler eine solche Verordnung erläßt. 
2. Aufdas Objekt. Der Kreis der durch Verordnung zu regeln- 
den Rechtsbeziehungen kann ein sehr weiter sein; ein Gesetz kann 
möglicherweise weiter nichts enthalten als die Anordnung, daß eine 
gewisse Materie durch Verordnung normiert werden soll), oder es 
kann eine Strafe für die Uebertretung von Vorschriften androhen, 
welche im Verordnungswege zu erlassen sind ?%). In allen Fällen muß 
sich aber der Inhalt der Verordnung innerhalb der von dem delegie- 
renden Gesetz gezogenen Grenzen halten. Wenn eine Verordnung 
diese Grenzen überschreitet, so braucht sie deshalb nicht ganz und 
gar nichtig zu sein; sie behält ihre Gültigkeit, soweit ihre Anordnungen 
durch die gesetzliche Ermächtigung gestützt und getragen werden; 
oder sie kann als Rechtsvorschrift ungültig sein, als Verwal- 
tungsvorschrift dagegen Wirkungen haben °). 
1) Vgl. RosinS. 288 fg. 
2) Ein Beispiel für eine Unregelmäßigkeit dieser Art ist die kaiserliche 
Verordnung vom 1. April 1876 (Reichsgesetzbl. S. 137 fg.) zur Ausführung des Kriegs- 
leistungsgesetzes vom 13. Juni 1873. Dieses Gesetz enthält keine Delegation zu Gunsten 
des Kaisers, sondern in den $8 16, 17, 20, 29, 33 Ermächtigungen für den Bundes- 
rat. Der Fehler ist aber lediglich ein formeller; denn die Verordnung vom 1. April 
1876 ist „nach erfolgter Zustimmung des Bundesrates“ erlassen. 
3) Beispiele dafür sind das Bundesgesetz vom 10. März 1870 (Bundesgesetzbl. 
S. 46); Reichsgesetz vom 30. März 1874 (Reichsgesetzbl. S. 23); Reichsgesetz vom 
6. Januar 1876 (Reichsgesetzbl. S. 3); Reichsgesetz vom 7. Juni 1880 (Reichsgesetzbl. 
S. 146); Reichsgesetz vom 3. Mai 1884 (Reichsgesetzbl. S. 49). 
4) Dies ist z. B. geschehen im Strafgesetzbuch $ 145, wonach die strafgesetzlich 
geschützten Verordnungen vom Kaiser zu erlassen sind. Binding, Normen I, 
S. 75 nennt derartige Gesetze „Blankettstrafgesetze“. Rosin S. 711g. 
5) Rosin S. 8; Seligmann, Begriff des Gesetzes S. 113. Dambitsch 
S. 229. — Bis zum Erlaß des neuen Handelsgesetzbuchs galt dies z. B. von dem 
Eisenbahnbetriebsreglement, welches lediglich Verwaltungsregeln für den Eisen-
	        
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