108 8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs.
Von diesen Gesichtspunkten aus unterliegen einige Vorordnungen
des Reiches in Beziehung auf ihre rechtliche Gültigkeit erheblichen
Bedenken !).
V. Die Verordnungen, welche Rechtsvorschriften enthalten, müssen,
um Geltung zu erlangen, verkündigt werden. Es ergibt sich dies
daraus, daß Rechtsvorschriften nicht an einzelne Behörden oder Per-
sonen gerichtet sind, wie Instruktionen und Verfügungen, welche durch
Mitteilung an den Adressaten verbindliche Kraft erlangen, sondern
daß sie die öffentliche Rechtsordnung mit regeln helfen und an Alle
gerichtet sind, welche an der Rechtsordnung des Staates Anteil nehmen.
Der Rechtsgrundsatz, daß die Rechtsfolgen einer Gesetzesverletzung
eintreten, ohne Rücksicht darauf, ob man das Gesetz wirklich gekannt
hat oder nicht, hat seine notwendige Ergänzung in dem Satz, daß das
Gesetz in der Art und Weise verkündigt worden ist, daß man es von
Rechts wegen hätte kennen müssen. Ob die Rechtsvorschrift im
Wege des Gesetzes oder in der Form der Verordnung erlassen wird,
macht in dieser Beziehung keinen Unterschied ?). Der wesentliche
Punkt, auf welchen es allein ankommt, ist der Rechtssatz, welcher
dem Abdruck in einem gewissen Blatt die Kraftder Verkündi-
gung beilegt. Die Wirkung dieses Rechtssatzes ist es, daß die
Rechtsvorschrift durch diesen Abdruck als aller Welt verkündet
gilt, auch wenn niemand von ihm Notiz genommen haben sollte,
und daß andererseits Abdrücke in tausend Zeitungen und Privataus-
bahnbetrieb enthielt und bei Beurteilung der Frachtverträge als Vertragsbestimmung
in Betracht kommen konnte. Es ist dies mit vorzüglicher Klarheit ausgesprochen in
dem Urteil des Reichsoberhandelsgerichts vom 30. November 1875, Ent-
scheidungen Bd. 19, S. 184 ff. Vgl. auch Entscheidung des Reichsgerichts vom
6. März 1886. Entscheidungen in Zivilsachen Bd. 15, S. 156. Ferner Eger, Hand-
buch des preuß. Eisenbahnrechts S. 61 und die daselbst angeführte Literatur, sowie
G. Meyer, Verwaltungsrecht I, $ 164, Note 22. — Auch die zur Ausführung des
Militärpensionsgesetzes vom Bundesrat beschlossenen „Bestimmungen“ vom 22. Febr.
1875 (Zentralbl. S. 142), welche vielfach Interpretationen des Gesetzes oder Schluß-
folgerungen aus demselben enthielten, zu deren Erlaß der Bundesrat aber nicht durch
eine besondere gesetzliche Bestimmung ermächtigt worden war, sondern welche er auf
Grund des Art.7, Ziff. 2 der Reichsverfassung erlassen hat, konnten nur als Instruk-
tionen für die Militärintendanturen und Kassenverwaltungen angesehen werden, nicht
als Rechtsregeln, welche bei einer richterlichen Entscheidung über Pensionsansprüche
in Betracht kommen konnten. Anders das Reichsgericht. Entsch. in Zivilsachen
Bd. 40, S. 69.
1) Diese Bedenken werden bei der Darstellung derjenigen Materien, auf welche
sich die einzelnen Verordnungen beziehen, erörtert werden. Vgl. aber über die hier
in Betracht kommenden Fragen im allgemeinen Hänel, Studien II, S.81fg.; Hen-
sel in Hirths Annalen 1882, S. 27 ff.; Seligmann S. 169 ff., sowie andererseits
Arndta.a. O.S. 85 ff.
2) Wohl aber besteht ein Unterschied zwischen der Rechtsverordnung und
der Verwaltungsverordnung. Ueber die letztere siehe unten 8 65. Uebereinstim-
mend HänelS.65ff.; Rosin S. 255; Urteil des Kammergerichts vom 29. April 1881
bei Seligmann S. 125; Jellinek S. 39.