114 8 59. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung.
erfüllen oder ob man sie nicht erfüllen und die Folgen der Nichter-
füllung auf sich nehmen wolle; dagegen das Gesetz des Reiches ent-
faltet seine rechtliche Kraft ohne Rücksicht darauf, ob der Einzelstaat
ihm gehorchen wolle oder nicht; es gilt kraft des Willens des Reiches,
nicht kraft des Willens des Einzelstaates. Deshalb kann der Einzel-
staat die Befolgung der Reichsgesetze seinen Behörden und Angehöri-
gen nicht nur nicht verbieten, sondern es ist auch kein Raum
für eine Willenserklärung des Einzelstaates, welche den Behörden und
Untertanen desselben die Beobachtung und Anwendung der Reichs-
gesetze anbefiehlt oder erlaubt. Der Einzelstaat kann den an ihn
erlassenen und ihn bindenden Befehl des Reiches nicht seinerseits
sanktionieren, und da die Sanktion ihren Öffentlichen Ausdruck findet
in der Verkündigung, auch nicht verkündigen '). Der bloße Ab-
druck eines Reichsgesetzes in einem Gesetz- oder Verordnungsblatt
eines Einzelstaates ist im juristischen Sinne keine Verkündigung,
sondern eine bloße Verbreitung des Gesetzes im Publikum. Wird
mit diesem Abdruck aber der landesherrliche Befehl, das
Reichsgesetz zu befolgen, verbunden, so ist dieser Befehl vollständig
nichtig; denn er sagt nur, was sich ganz von selbst versteht und was
der Landesherr weder zu befehlen noch zu verbieten rechtlich befugt
ist®). Daß die Richter und Verwaltungsbeamten, welche die Reichs-
gesetze in den Einzelstaaten anzuwenden und auszuführen haben, in
keinem Dienstverhältnis zum Reiche, sondern nur zum Einzelstaate
stehen, ändert hieran nichts. Der Art. 2 der Reichsverfassung deutet
die Unzulässigkeit einer Verkündigung durch die Einzelstaaten dadurch
an, daß er sagt: »Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft
durch ihre Verkündigung von Reichs wegen.« Was bereits ver-
bindliche Kraft hat, dem kann nicht nochmals verbindliche Kraft
erteilt werden.
Il. Das Verhältnis der Reichsgesetze zu den Lan-
desgesetzen*) der einzelnen Staaten bestimmt sich im allgemeinen
1) Ueber eine unrichtige Auffassung der Verkündigung bei SeydelS. 44 siehe
oben S. 55, Note l. Sie hängt mit dessen Gesamtauffassung des Wesens des Reiches
zusammen.
2) Auch die Eigenschaft der Authentizität mangelt ihm. Er
steht, wie bereits oben S. 55 bemerkt wurde, auf gleicher Stufe mit dem Abdruck in
Zeitungen und Zeitschriften. Dies gilt z. B. von dem Wiederabdruck des Reichsge-
setzes indem Mecklenburgischen Regierungsblatte. Vgl. Böhlau, Mecklenb.
Landrecht I, S. 298.
3) Wenn der Einzelstaat die Befolgung eines Reichsgesetzes anordnet, so hat
das ungefähr die gleiche Bedeutung, als wenn der Magistrat einer Stadtgemeinde den
Einwohnern die Befolgung eines Staatsgesetzes einschärtft.
4) Vortreffliche Untersuchungen darüber enthält die Schrift von Heinze, Das
Verhältnis des Reichsstrafrechts zu dem Landesstrafrecht, Leipzig 1871; derselbe
in v. Holtzendorffs Handbuch des deutschen Strafrechts Bd. 2, S. 1 ff. und im Ge-
richtssaal Bd. 30 (1878), S. 561 ff.; Binding, Handbuch des Strafrechts I, S. 270 ff.
Daselbst ist die umfangreiche Literatur über das Verhältnis des Reichstrafrechts zum