116 5 59. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung.
gehen; eine wissenschaftliche oder logische Interpretation aber ist nie-
mals mit dem Befehl, sie zu befolgen, verbunden, kann also, selbst
wenn sie in der Form des Gesetzes oder der Verordnung erfolgt, nicht
die materielle Gesetzeskraft haben !).
b) Landesgesetze, welche die mit einem Reichsgesetz in Wider-
spruch stehenden landesgesetzlichen Vorschriften aufheben, sind
unzulässig ?). Eine bereits aufgehobene Vorschrift kann nicht noch-
mals aufgehoben werden; der landesherrliche Befehl, eine gewisse
Rechtsvorschrift zu befolgen, wird kraftlos, sobald der souveräne Be-
fehl des Reiches, eine andere Rechtsvorschrift zu befolgen, in Wirkung
getreten ist; mithin kann der landesherrliche Befehl auch nicht mehr
zurückgenommen werden. Wenn das Landesgesetz sich darauf be-
schränkt, im allgemeinen die landesrechtlichen, mit einem Reichs-
gesetz in Widerspruch stehenden Bestimmungen für aufgehoben zu
erklären, so spricht es etwas aus, was sich von selbst versteht, und
ist unschädlich. Wenn aber das Landesgesetz die durch das Reichs-
gesetz in Wegfall gekommenen landesrechtlichen Vorschriften speziell
und in der Tendenz, sie vollzählig aufzuführen, angibt, so ist die
Möglichkeit geboten, daß das Landesgesetz hierbei gewisse Rechtsvor-
schriften übersieht oder die Tragweite der reichsgesetzlichen Anord-
nungen verkennt. Die in einem solchen Gesetze nicht aufgeführten,
mit dem Reichsgesetze aber tatsächlich dennoch im Widerspruch
stehenden landesgesetzlichen Vorschriften sind aber ebenso beseitigt,
wie die ausdrücklich erwähnten. Der Einzelstaat kann die Wirkungen
des Reichsgesetzes nicht indirekt abschwächen, indem er diese Wir-
kungen unvollständig aufzählt. Die landesgesetzliche Aufhebung be-
stimmter Vorschriften des Landesrechtes, weil dieselben mit einem
Reichsgesetz im Widerspruch stehen, würde eine unzulässige Deklara-
tion eines Reichsgesetzes sein ?).
Nur wenn ein Reichsgesetz ausdrücklich die Einzelstaaten ermächtigt,
diejenigen landesrechtlichen Vorschriften im Wege der Gesetzgebung
oder im Wege der Verordnung zu bezeichnen, welche durch das Reichs-
gesetz in Wegfall kommen, ist der Einzelstaat in der Lage, die Ver-
änderungen, welche das Reichsgesetz an dem bisherigen Rechtszustande
hervorbringt, partikularrechtlich zu fixieren.
Außerdem kann das Reichsgesetz die Veranlassung bieten, landes-
l) Heinze S. 23 und im Gerichtssaal a. a. O0. S. 580. Renaud, Gutachten
über die Gesetzgebungsfrage, den Ausgleich zwischen dem deutschen Reichsrecht
und dem Oode civ. (Bad. Landrecht) betreffend, Heidelberg 1878, S.4; Binding
S. 283. Vgl. auch Eisele im Archiv für zivilist. Praxis Bd. 69, S. 303 ff. Die ent-
gegengesetzte Ansicht findet sich bei Riedel S. 42.
2) RiedelS. 82. Anderer Ansicht Leoni |, S. 169, 170.
3) HeinzeS. 28, 144 ff.;, Riedel S. 82, besonders Renaud in dem ange-
führten Gutachten; Wach S. 195; Stooß, Das Verhältnis der zivilrechtl. Haftbar-
keit nach Art. 50 des schweizerischen Obligationenrechts zum kantonalen Strafrecht,
Basel 1886, S. 5 fg.