222 8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung.
benen französischen Gesetze, die Kraft und Bedeutung des partikulären
Landesrechts haben !).
b) Das Gesetz vom 9. Juni 1871 über die Vereinigung von Elsaß
und Lothringen mit dem Deutschen Reich trat am 28. Juni 1871 in
Kraft. Da durch dieses Gesetz dem Kaiser die Ausübung der Staats-
gewalt in Elsaß-Lothringen übertragen wurde, hatte er auch die Be-
fugnis, Gesetze zu erlassen. Die Form aber, in welcher diese Befugnis
auszuüben war, unterschied sich, so lange die Reichsverfassung in
Elsaß-Lothringen nicht Geltung hatte, von dem verfassungsmäßigen
Wege der Reichsgesetzgebung. Der Unterschied bestand im wesent-
lichen darin, daß die Mitwirkung des Reichstages an dem Zustande-
kommen der Gesetze ausgeschlossen war. Der Reichstag wurde auf
zwei Rechte beschränkt. Seine Zustimmung wurde erfordert bei der
Aufnahme von Anleihen oder Uebernahme von Garantien für Elsaß
und Lothringen, durch welche irgend eine Belastung des Reiches
herbeigeführt wird?), und dem Reichstag sollte über die erlassenen
Gesetze und allgemeinen Anordnungen und über den Fortgang der
Verwaltung jährlich Mitteilung gemacht werden ($ 3 Abs. 3). Dagegen
war der Kaiser bei Ausübung der Gesetzgebung an die Zustimmung
des Bundesrates gebunden. Die Sanktion der Gesetze stand aber nicht
dem Bundesrat, sondern dem Kaiser zu. Während der Kaiser nach
der Reichsverfassung verpflichtet ist, ein vom Bundesrat ordnungs-
mäßig beschlossenes Gesetz auszufertigen und zu verkündigen, ohne daß
ihm ein Veto zusteht, hatte er für Elsaß-Lothringen die freie Ent-
scheidung darüber, ob er dem vom Bundesrat beschlossenen Gesetz
sein Placet erteilen wollte oder nicht. »Der Kaiser kann nicht majo-
risiert werden«°). Die gegenseitige Stellung des Kaisers und Bundes-
rates bei der Gesetzgebung für Elsaß und Lothringen war ebenso nor-
miert wie für diejenigen Verordnungen, welche der Kaiser in
dem Bereich der verfassungsmäßigen Zuständigkeit des Reichs mit
Zustimmung des Bundesrats oder im Einvernehmen mit dem Bundes-
rate zu erlassen hat. Man kann daher den Gedanken des Gesetzes
vom 9. Juni 1871 S 3 auch in der Art formulieren, daß bis zum Ein-
tritt der Wirksamkeit der Reichsverfassung die unter Zustimmung des
Bundesrats erlassene kaiserliche Verordnung die Form war, in welcher
die Gesetzgebung im Reichslande ausgeübt wurde. Da Kaiser und
Bundesrat als Organe des Reichs dabei handelten, so kam die Reichs-
1) Vgl. über die Einzelheiten, welche gegenwärtig ihre Bedeutung eingebüßt
haben, die Erörterungen in der 4. Auflage Bd. II, S. 236 ff.
2) Anleihen zu Lasten der Landeskasse von Elsaß-Lothringen bedurften der Zu-
stimmung des Reichstages nicht. Eine Anwendung dieses Satzes enthält das Ges. v.
10. Juni 1872, $ 20 fg. (Gesetzbl. f. Els.-Lothr. S. 171).
3) Bismarck in der Reichstagssitzung vom 20. Mai 1871 (Stenogr. Berichte S. 924).