8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung. 223
landsidee zum schärfsten Ausdruck. Die kaiserlichen Verordnungen
waren Provinzialreichsgesetze !).
Da Art. 2 der Reichsverfassung nicht eingeführt wurde, so kam
die Verkündigung der kaiserlichen Verordnungen durch das Reichs-
gesetzblatt nicht zur Anwendung. Durch das Gesetz vom 3. Juli 1871
(Gesetzblatt S. 2) wurde angeordnet, daß die für Elsaß-Lothringen er-
lassenen Gesetze und kaiserlichen Verordnungen verkündet werden in
einem Gesetzblatt, welches den Titel »Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen«
führt und vom Reichskanzleramt herausgegeben wird. Mit
der Gesetzgebungsgewalt des Reichs über Elsaß-Lothringen hat dies
nichts zu tun; es werden lediglich für zwei Arten von Reichsgesetzen
zwei verschiedene Arten der Verkündigung eingeführt; aber es war
immerhin der erste Ansatz einer, zwar nur äußerlichen und unwesent-
lichen, aber dafür um so mehr in die Augen fallenden Unterscheidung
der Reichsgesetze und Landesgesetze. Dem reinen und konsequent
durchgeführten Reichslandsgedanken hätte es entsprochen, die für das
Reichsland erlassenen Gesetze im Reichsgesetzblatt zu verkündigen, so-
wie andere Reichsgesetze, welche für einen Teil des Reichsgebiets oder
die Schutzgebiete erlassen werden; durch die Gründung des besonderen
Gesetzblattes für Elsaß-Lothringen dagegen hatte das Reichsland seine
Gesetzszammlung wie sie die Bundesstaaten haben, wenngleich sie von
der Zentralbehörde des Reichs, dem Reichskanzleramt, herausgegeben
wurde. Es lag darin immerhin eine Abschwächung des Reichslands-
gedankens; ein Keim, der sich später stark entwickelte.
c) Am 1. Januar 1874 trat die Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen
in Kraft und von diesem Zeitpunkt an fiel hinsichtlich der Gesetzge-
bungsformen die Spaltung des Reichsgebiets in zwei Rechtsgebiete fort;
das Reichsland trat dem von der Reichsverfassung beherrschten Rechts-
gebiete hinzu. Die Regeln, nach welchen die Gesetzgebung des Reichs
ausgeübt wird, fanden auf die für das Reichsland ergehenden Gesetze
vollkommene Anwendung. Eine Ergänzung erhielten sie nur dadurch,
daß das im Reichsgesetz vom 25. Juni 1873 8 8 dem Kaiser bis zu
anderweiter gesetzlicher Regelung eingeräumte Recht, Verordnungen
mit provisorischer Gesetzeskraft zu erlassen, fortbestehen blieb. Es
war also nicht nur die Gesetzgebungskompetenz des Reichs im Reichs-
lande eine allumfassende, unbeschränkte und ausschließliche, was be-
reits im Gesetz vom 9. Juni 1871 8 3 Abs. 4 ausgesprochen war, son-
dern es gab auch, von den provisorischen Verordnungen des Kaisers
abgesehen, für die Gesetzgebung in Landesangelegenheiten keine andere
Form als für die Reichsgesetzgebung überhaupt. Es bestand kein
Unterschied zwischen den Angelegenheiten, welche verfassungsmäßig
im ganzen Reichsgebiet der Gesetzgebung des Reichs unterliegen, von
denjenigen Angelegenheiten, auf welche sich die Gesetzgebung des Reichs
1) Vgl. über die Folgerungen, welche sich hieraus ergaben, die 4. Auflage Bd. II,
S. 240 ff., besonders S. 246 ff.