$ 70. Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete. 283
mehr die völkerrechtliche Okkupation, die einseitige Errichtung
einer Herrschaft über die Schutzgebiete. Aber diese Verträge sind dar-
um nicht ohne Rechtswirkung; sie bestimmen den Modus der Ok-
kupation; das Reich vernichtete nicht die Herrschaftsrechte der Häupt-
linge; es begnügte sich hinsichtlich der einheimischen Bevölkerung
mit der Errichtung einer Oberherrschaft, und es verpflichtete
sich den unterworfenen Häuptlingen zur Schonung der in den Ver-
trägen bezeichneten Rechte '., Ob man nun diese Rechte als »staat-
liche« bezeichnet oder nicht, ist ein Wortstreit; jedenfalls haben sie
den Charakter vonöffentlichen Herrschaftsrechten und mit-
hin sind in diesen Schutzgebieten die Hoheitsrechte über die Einge-
borenen an zwei Iräger verteilt, an die Häuptlinge und an das den-
selben übergeordnete Reich ?). In Südwestafrika haben aber die
1) Adam im Archiv für öffentl. Recht Bd. 6, S. 259 erklärt die Verträge für
ganz unwirksam; sie seien „Scheingeschäfte‘“, „die nur aus politischen Gründen, mit
welchen die Rechtsbetrachtung an sich nichts zu schaffen hat, eingegangen werden“!
Als Grund führt er an (S. 251), daß „den beteiligten Barbaren“ die rechtliche Trag-
weite ihrer Erklärungen nicht bewußt und verständlich gewesen sei. Er schließt
daraus (S. 301 fg.), daß den Häuptlingen „die Herrschaft nur dem Anschein nach
vorbehalten sei; sie seien Organe des Reiches nur so lange, als die Reichsgewalt es für
gut befindet, ihnen diese Stellung einzuräumen; so wenig sie ein Recht auf Ausübung
ihres Amtes haben, so wenig bestehe eine Rechtspflicht für das Reich, ihnen die in
den Verträgen zur Ausübung zugesprochenen Rechte sämtlich zu belassen“. Diese
Ansicht imputiert dem Kaiser und seinen Vertretern ein doloses Verhalten, den wis-
sentlichen Abschluß von Scheingeschäften, die fraudulose Erteilung unwirksamer Ver-
sprechungen. Wenn die afrikanischen Häuptlinge wirklich den Sinn und die Trag-
weite der Verträge nicht verstanden haben sollten — was eine willkürliche und un-
erweisbare Behauptung ist —, so würde daraus nur ein Entschuldigungsgrund für sie
herzuleiten sein, wenn sie die Verträge brechen; aber es könnte daraus kein Recht
des Reichs folgen, so lange die Häuptlinge die Verträge halten, sie als unverbind-
lich zu behandeln. Indem der Kaiser mit den Häuptlingen einen Vertrag abschloß,
erkannte er dadurch ihre Vertragsfähigkeit an, und es ist daher von seiten des Reichs
nicht zulässig, aus der angeblichen Vertragsunfähigkeit der Häuptlinge die Unver-
bindlichkeit der Verträge herzuleiten. Die Ausführungen Adams sind nicht nur
juristisch unhaltbar, sondern sie widersprechen der Moral; sie nehmen den Ausgangs-
punkt von der Annahme einer frivolen Vertragsschließung und gelangen zur Recht-
fertigung eines frivolen Vertragsbruchs. Gegen Adam erklären sich auch v. Stengel
1895, S. 587 ff. Köbner S. 1084.
2) Wenn Adam S. 298 sich demgegenüber auf die Umveräußerlichkeit und Un-
teilbarkeit der Souveränität beruft, so schiebt er dem Worte „Souveränität“ einen
anderen und falschen Siun unter. DieEigenschaft einer Staatsgewalt, souverän,
d. h. die oberste, zu sein, läßt ihrem Begriff nach keine Teilung und keine Beschrän-
kung zu; dagegen die einzelnen, in der Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse (soge-
nannte Hoheitsrechte) können übertragen, beschränkt, geteilt werden. Wer dies leug-
net, muß konsequenterweise auch entweder dem Deutschen Reich oder den deutschen
Staaten den staatlichen Charakter absprechen. v. Poser S. 35 bezeichnet die den
Häuptlingen gewährten Rechte als „Privilegien“; dies ist ein Wort, aber kein Begriff;
denn es fragt sich eben, von welcher Art das durch Privileg gewährte Sonderrecht
ist. Privileg ist jede einem bestimmten Subjekt zugestandene Ausnahme von der
generalis lex. Ganz unrichtig ist es, wenn v. Poser daraus folgert, daß diese Rechte
von der Reichsregierung wieder entzogen werden können.