30 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
Rechtsfolge der Sanktion, unabwendbar durch dieselbe bereits verur-
sacht '). Der entscheidende und freie Wille, ob etwas Gesetz werden
soll oder nicht, kommt allein bei der Sanktion zur Entfaltung. Dar-
aus folgt mit Notwendigkeit, daß derjenige, der das Recht hat, die
Sanktion zu erteilen, auch das Recht haben muß, sie zu versagen,
oder wie man sich gewöhnlich ausdrückt, daß ihm das absolute Veto
zustehen muß. Wer die Sanktionsformel infolge des Willens eines
Anderen auf ein Gesetz schreiben m uß, auch ohne daß er selbst
will, aber kraft rechtlicher Nötigung, der erteilt in Wahrheit die
Sanktion nicht, der ist nicht Träger der gesetzgebenden Gewalt, son-
dern jener Andere, in dessen freier Entschließung es steht, jenen
Beschluß zu fassen oder nicht. Hieraus ergibt sich, daß man dem
Kaiser nur dann die Sanktion der Reichsgesetze zuschreiben kann,
wenn man ihm zugleich das sogenannte absolute Veto, d. h. die Be-
fugnis, die Sanktion zu verweigern, beilegt. Dies ist aber durch die
Reichsverfassung ausgeschlossen. Art.5 der Reichsverfassung stellt den
Satz an die Spitze: »Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den
Bundesrat und den Reichstag.« Der Kaiser wird hier gar nicht er-
1) Fricker a. a. O. S. 16fg. erhebt das Bedenken, daß das Gesetz erst
durch die Verkündigung zur rechtlichen Entstehung kommen, also nicht
vorher schon rechtliche Wirkungen haben könne; mithin könne die Verkündigung
nicht die rechtlich notwendige Folge der Sanktion sein. In der Tat ist der Gesetz-
gebungsvorgang erst mit der Publikation vollendet; vorher ist das Gesetz rechtlich
noch nicht vorhanden, und es wäre töricht, einem noch nicht vorhandenen Gesetz
bereits „Gesetzeskraft“ beilegen zu wollen. Aber hiervon ganz verschieden ist die
rechtliche Erscheinung, daß bei einem aus mehreren Momenten zusammengesetzten
Vorgang die Vornahme eines gewissen Aktes eine rechtlich verpflichtende Wirkung
hinsichtlich der Vornahme anderer Akte äußern könne So gehört z. B. auch zur
Perfektion eines gerichtlichen Urteils die Verkündigung; so lange es nicht verkündigt
ist, hat es nicht nur gar keine Wirkung für die Parteien, sondern auch die im Bera-
tungszimmer versammelten Richter können den von ihnen gefaßten Beschluß noch
abändern oder aufheben. Andererseits ist es aber doch zweifellos, daß die Verkündi-
gung des Urteils kein freier Willensakt des Vorsitzenden und ebensowenig des
Gerichtshofes ist, sondern daß das beschlossene Urteil verkündet werden muß. Die
bloße Fällung des Urteils hat daher zwar keine „Urteilskraft“, aber sie ist dennoch
der maßgebende Akt, welcher die Verkündigung, Ausfertigung und Zustellung des
Urteils nach Rechtsgrundsätzen, nicht nach freiem Belieben, nach sich zieht.
Dieselbe Bedeutung hat in dem komplizierten Gesetzgebungsvorgang das Moment
der Sanktion. Nicht das sanktionierte Gesetz erzeugt die Verpflichtung
zu seiner Verkündigung, sondern an die Tatsache, daß ein Gesetz sanktioniert
worden ist, knüpft das Verfassungsrecht für ein bestimmtes, dazu berufenes
Organ des Staates die Verpflichtung, dieses Gesetz zu verkündigen. Liegt diese
Pflicht, wie dies in der Monarchie der Fall ist, demselben Organ ob, dem die
Sanktion zusteht, so ist allerdings, so lange die Verkündigung nicht erfolgt ist, ihm
die Möglichkeit gegeben, diese verpflichtende Tatsache wieder fortzuschaffen, d. h.
die Sanktion rückgängig zu machen. Nach der Reichsverfassung aber sind die beiden
Akte der Sanktion und der Verkündigung verschiedenen Organen zugewiesen, und
hier wird es daher von praktischer Bedeutung, daß der Akt der Sanktion ein recht-
lich freier, der der Verkündigung ein rechtlich gebundener ist.