Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

38 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 
a) Gesetzesvorschläge, durch welche die bestehenden Einrichtungen 
hinsichtlich des Militärwesens, der Kriegsmarine oder 
der im Art. 35 der Reichsverfassung bezeichneten Abgaben verän- 
dert werden sollen. Sie sind abgelehnt, wenn die preußischen Stim- 
men im Bundesrate gegen ihre Annahme abgegeben werden). 
b) Gesetzesvorschläge, ‘durch welche Veränderungen der Verfas- 
sung erfolgen sollen. Sie sind abgelehnt, wenn sie im Bundesrate 
14 Stimmen gegen sich haben ?). 
Daß in diesem Artikel unter Verfassung nur die Verfassungs- 
urkunde, wie sie durch das Gesetz vom 15. April 1871 festgestellt 
worden ist, nicht der gesamte Verfassungszustand des Reiches 
zu verstehen ist, unterliegt keinem Zweifel. Die Verfassungsurkunde 
bezeichnet sich selbst als »Verfassung«, und es kann daher nicht an- 
genommen werden, daß sie in ihrem eigenen Art. 78 unter diesem 
Ausdruck etwas anderes versteht?). Auch würde die entgegengesetzte 
Ansicht zu völliger Unklarheit führen, da der »Verfassungszustand« 
durch die Gesamtheit aller bestehenden Gesetze und Einrichtungen 
bestimmt wird, fast jedes Gesetz daher eine Veränderung der Verfas- 
sung in diesem Sinne bewirken würde. Auch der Art. 107 der preußi- 
schen Verfassungsurkunde, welcher in ähnlicher Weise wie Art. 78, 
Abs. 1 der Reichsverfassung von der Abänderung der Verfassung auf 
dem Wege der Gesetzgebung spricht, ist niemals anders ausgelegt 
worden, als daß das Wort Verfassung gleichbedeutend mit Verfassungs- 
urkunde ist‘®). 
Ebenso unzweifelhaft ist es, daß alle in gesetzlichem Wege er- 
folgten Veränderungen der Verfassungurkunde ebenfalls nur ge- 
ändert werden können unter Beobachtung der im Art.78, Abs. 1 auf- 
gestellten Regel. 
Dagegen bedarf eine andere Frage noch einer näheren Untersu- 
chung. Es kann nämlich vorkommen, daß ein Gesetz erlassen wer- 
den soll, welches formell den Wortlaut der Verfassungsurkunde un- 
verändert läßt, materiell aber eine Abänderung des Inhaltes bewirkt, 
welches also, wie man zu sagen pflegt, »materiell verfassungswidrig« ist°). 
Ein solches Gesetz kann selbstverständlich nur die Sanktion er- 
halten, wenn sich im Bundesrat nicht 14 Stimmen gegen dieselbe er- 
1) Reichsverfassung Art. 5, Abs. 2. 
2) Reichsverfassung Art. 78, Abs. 1. Die Entscheidung der Vorfrage, ob ein 
Gesetzvorschlag eine Veränderung der Verfassung enthält oder nicht, erfolgt durch 
einfache Majorität. Dies ist die allgemein herrschende Ansicht; dievon Dambitsch 
S. 235fg. entwickelte Ansicht, daß diese Frage vom Kaiser, d.h. von Preußen 
allein, zu entscheiden sei, hat in der RV. keinen Stützpunkt und ist ganz willkürlich. 
3) v. Mohl, Reichsstaatsrecht S. 143 fg. 
4) Vgl. v. Rönne, Staatsrecht der preuß. Monarchie I, 8 187 VI; S. 617g. 
5) Eine ausführliche, aber verwirrte und unlogische Abhandlung über die recht- 
liche Bedeutung verfassungswidriger Gesetze enthält v. Mohls Staatsrecht, Völker- 
recht und Politik. Bd. I, S. 66 ff.
	        
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