8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 51
Selbst wenn man daher nach dem öffentlichen Rechte eines deut-
schen Bundesstaates ein richterliches Prüfungsrecht der Verfassungs-
mäßigkeit der Landesgesetze annehmen wollte, so besteht jeden-
falls ein solches Prüfungsrecht den Reichsgesetzen gegenüber
nicht. Auch das Reichsgericht hat sich zu dem ‚Grundsatz bekannt,
daß die Frage, ob ein Gesetz ohne Abänderung der Verfassung und
ohne Anwendung der dieserhalb vorgeschriebenen Formen hätte erlas-
sen werden dürfen, der Nachprüfung durch den Richter entzogen ist').
Aus dem hier ausgeführten Grundsatz ergibt sich noch eine an-
dere wichtige Konsequenz. So wenig der Richter oder Verwaltungs-
beamte, ebensowenig kann auch das einzelne Bundesglied ein
vom Kaiser ausgefertigtes Gesetz als verfassungswidrig zustandegekom-
men bezeichnen und für unverbindlich erklären?.. Wenn eine Bun-
desregierung der Ansicht ist, daß durch ein Gesetz ein ihr zustehendes
Sonderrecht verletzt oder ihr eine unbillige Mehrbelastung auferlegt
werde, so muß sie ihren Widerspruch gegen den Erlaß des Gesetzes
vor Ausfertigung desselben erheben und der Beschlußfassung
im Bundesrat unterbreiten. Hat der Kaiser die Ausfertigung erteilt,
so ist damit konstatiert, daß ein solcher Widerspruch entweder nicht
erhoben oder durch ordnungsmäßigen Beschluß des Bundesrates für
unbegründet erklärt oder durch nachträgliche Zustimmung des be-
teiligten Bundesgliedes zu dem Gesetze erledigt worden ist’). So ist
Publikationsformel der Gesetze aller Deutscher Staaten, auch Preußens, und aller
Reichsgesetze ohne Ausnahme haben übereinstimmend diese Klausel, welche die Be-
obachtung des Gesetzgebungswegs konstatiert, und es ist auch sachlich durchaus
begründet, daß eine Anordnung, welche sich als Gesetz ausgibt, die Tatsachen
anführt, ohne welche sie es nicht sein könnte. Daß die RV. diese Klausel nicht vor-
schreibt, worauf Dambitsch seine Meinung stützt, ist nicht maßgebend, denn die
RV. enthält überhaupt keine vollständige und zusammenhängende Regelung des Ge-
setzgebungsverfahrens.
1) Entscheidungen in Zivilsachen Bd. 9, S. 235fg. Vgl. Jellinek 4.20.
Auch das ehemalige Oberappellationsgericht zu Lübeck, welches von dem Grund-
satz des richterlichen Prüfungsrechts ausgeht, hat in dem Erkenntnis vom 6. April 1869
(in Seufferts Archiv Bd. 26, Nr. 99, S. 162) ausgeführt, daß die Beglaubigung des
verfassungsmäßigen Zustandekommens seitens des dazu berufenen Staatsorgans für
die Gerichte genügend sei. Ebenso der Bayrische Verwaltungsgerichtshof (Samml.
seiner Entsch. Bd. 27. S. 290).
2) Die entgegengesetzte Folgerung zieht konsequenterweise Hänel, Studien I,
S. 261 ff.; er erblickt gerade in dem richterlichen Prüfungsrecht der Verfassungs-
mäßigkeit der Reichsgesetze einen indirekten Rechtsschutz des Einzel-
staates gegen rechtswidrige Eingriffe des Reiches in seine Rechtsordnung. Die
Einzelstaaten würden um denselben nicht zu beneiden sein; denn sie könnten in die
eigentümliche Lage kommen, daß der Bundesrat von ihnen die Durchführung
eines Reichsgesetzes verlangt und sie mit Bundesexekution bedroht, während ihre
Gerichtshöfe dasselbe Reichsgesetz für nicht nach Maßgabe der Reichsverfassung
erlassen und deshalb für unanwendbar und nichtig erklären.
3) Dadurch erledigen sich die politischen Bedenken, welche gegen die Bd. 1,
$ 12 entwickelte Theorie der jura singulorum erhoben worden sind; insbesondere
von Löning in Hirths Annalen 1875, S. 359 fg. und v. Martitz in der Tübinger