Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 53 
mit den Vorschriften der Reichsverfassung errichtet worden sei. Da- 
gegen erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nicht 
auf den materiellen Inhalt der Gesetzesvorschriften, auf welche er nach 
erfolgter Beschlußfassung des Reichstages und Bundesrates keinen Ein- 
fluß mehr auszuüben vermag. Wenn der Reichskanzler daher mit 
den Anordnungen des Gesetzes nicht einverstanden ist, jedoch aner- 
kennen muß, daß das Gesetz verfassungsmäßig errichtet worden ist, 
so ist er weder verpflichtet, noch auch berechtigt, die Ausfertigung 
desselben durch Versagung seiner Gegenzeichnung zu hindern oder 
zu verzögern. 
4. Dem Kaiser steht außer der Ausfertigung der Reichsgesetze ge- 
mäß Art. 17 der Reichsverfassung deren Verkündigung zu. Dieser 
Ausdruck bedeutet an dieser Stelle nicht die Bekanntmachung selbst, 
welche im Art. 2 der Reichsverfassung geregelt ist, sondern den Ver- 
kündigungsbefehl. Der kaiserliche Befehl ist an den Reichs-. 
kanzler gerichtet und steht mit der Ausfertigung in so untrennbarem 
und engem Zusammenhange, daß beide tatsächlich zusammenfallen. 
Denn der Kaiser kann kein Gesetz verkündigen lassen, dessen verfas- 
sungsmäßige Existenz er nicht vorher durch die Ausfertigung konsta- 
tiert hat, und er kann andererseits nicht das Gesetz ausfertigen und es 
dennoch nicht verkündigen lassen. Wenn der Kaiser anerkennt, daß 
das Gesetz gültig zustande gekommen ist, so ist die Verkündigung des- 
selben, da ihm kein Veto zusteht, nicht nur sein Recht, sondern seine 
Pflicht. So wie die Terminologie des französischen Rechtes, wie oben 
ausgeführt, unter dem Ausdruck promulgation die Ausfertigung und 
den Publikationsbefehl zusammenfaßt, so verbindet auch der Art. 17 
der Reichsverfassung die Ausfertigung und Verkündigung der Reichs- 
gesetze mit einander. Der Regel nach wird die Verkündigung sofort 
nach vollzogener Ausfertigung erfolgen; erscheint es dem Kaiser ge- 
boten, die Verkündigung auf einige Zeit hinauszuschieben, so kann er 
dies durch Verzögerung der Ausfertigung erreichen. 
Da die Verkündigung die notwendige und in der Regel sofort 
eintretende Folge der Ausfertigung ist, so ergibt sich, daß der Verkün- 
digungsbefehl vom Kaiser nicht ausdrücklich erteilt zu werden 
braucht, sondern daß er als selbstverständlich in der Ausfertigung still- 
schweigend mitenthalten ist. Dem Wortlaut des Art. 17 würde es aller- 
dings entsprechen, wenn der Kaiser die Ausfertigung des Gesetzes dem 
Reichskanzler mit der ausdrücklichen Anordnung, dasselbe zu ver- 
kündigen, zugehen ließe, und ein solcher Befehl wird in der Tat in 
allen denjenigen Fällen erforderlich sein, wenn derselbe noch irgend 
einen anderen Inhalt hat als die stereotype und selbstverständliche 
Bestimmung: »Dieses Gesetz ist zu verkündigen«!). 
1) Wenn z. B. mit der Verkündigung bis zum Eintritt eines bestimmten Zeit- 
punktes gewartet werden soll. In dieser Hinsicht ist ein Beschluß des Bundesrats 
vom 5. April 1876 anzuführen. Der Bundesrat sanktionierte das Gesetz betreffend
	        
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