Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 69 
Verständlichkeit Vorschriften mit aufgenommen, welche nur Ausfüh- 
rungsbestimmungen sind und durch Verordnungen oder Instruktionen 
erlassen werden könnten. Die Regierung bindet sich dadurch, daß 
sie für solche Anordnungen den Weg der Gesetzgebung beschreitet, 
zwar mehr, als von Rechts wegen erforderlich ist, aber sie entlastet 
sich dadurch von ihrer Verantwortlichkeit; sie ge- 
winnt für die Maßregel eine größere Festigkeit und Beständigkeit; sie 
entgeht den Schwierigkeiten, welche in betreff der zur Durchführung 
der Maßregel erforderlichen Kosten bei Feststellung des Etats entstehen 
könnten. Aus diesen Gründen bedarf das konstitutionelle Staats- 
recht den Weg der Gesetzgebung auch außerhalb des Gebietes 
der Rechtsordnung. Die durch das konstitutionelle System gegebene 
Gefahr der Konflikte zwischen Regierung und Volksvertretung wird 
abgeschwächt. Die Verantwortlichkeit der Regierung wird dadurch 
erst erträglich und durchführbar, daß der Regierung die Möglichkeit 
eröffnet ist, anstatt auf eigene Hand Maßregeln zu treffen, durch das 
Beschreiten des Gesetzgebungsweges die Volksvertretung zur Mitwir- 
kung an allen Angelegenheiten, an denen es die Regierung für not- 
wendig erachtet, herbeizuziehen. Ist für irgend welchen staatlichen 
Willensakt die Form des Gesetzes angewendet worden, so ist hier- 
durch das Gebiet, auf welchem die Regierung ihren Willen allein zur 
Geltung bringen kann, begrenzt; der im Wege des Gesetzes erklärte 
Wille des Staates kann, soweit nicht ausdrücklich im Gesetze selbst 
Ausnahmen vorbehalten sind, nur auf demselben Wege abgeändert 
werden. Hieraus ergibt sich der Begriff, welcher mit dem Ausdruck 
»Bereich der Gesetzgebung« bezeichnet wird; er ist das Herrschafts- 
gebiet der formellen Gesetzeskraft;, er umfaßt nicht nur die Rechts- 
ordnung und diejenigen Gegenstände, welche durch spezielle Verfas- 
sungsbestimmung ihm zugewiesen sind, wie z. B. die Feststellung des 
Etats, sondern alle Fälle, in denen irgend ein in Gesetzesform 
erklärter Wille des Staates abgeändert oder außer Geltung gesetzt 
werden soll'). 
Mit dem im Vorstehenden entwickelten Begriff der formellen Ge- 
setzeskraft stehen folgende staatsrechtliche Erscheinungen im Zusam- 
menhange: 
1. Die formelle Gesetzeskraft ist unabhängig von dem Inhalt der 
Gesetze. Es gibt viele und wichtige staatliche Anordnungen, denen 
zwar formelle Gesetzeskraft zukommt, welche aber nicht Rechtsnor- 
men sind. Dahin gehören die zahlreichen instruktionellen Vorschrif- 
ten der Prozeßordnungen, Subhastationsordnung, Grundbuchordnung 
u.s. w. Dieselben können auf keinem anderen Wege als auf dem der 
Gesetzgebung aufgehoben oder abgeändert werden, weil die Sanktion 
der Prozeßordnungen u.s. w. sie mitumfaßt;, auf ihre Verletzung aber 
1) Vgl. über die Entwicklung dieses Grundsatzes im englischen Staatsrecht unter 
der Regierung Edwards Ill. Gneist, Das englische Parlament (Berlin 1886) S. 161.
	        
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