Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

16 8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 
fehl gilt ganz dasselbe, was überhaupt von jedem Befehl gilt, er kann 
seine Kraft und Wirksamkeit wegen veränderter Umstände verlieren. 
In den Gesetzen werden die Tatbestände, auf welche die gesetzlichen 
Regeln Anwendung finden sollen, gewöhnlich nur unvollständig an- 
gegeben; sie sind aus den allgemeinen Lebensverhältnissen und Kul- 
turzuständen zu ergänzen. Auch können die im Gesetze ausdrück- 
lich aufgeführten Momente zwar fortbestehen, aber ihre Bedeutung 
völlig verändern, wenn sie mit anderen Lebensverhältnissen sich kom- 
binieren. Wünschenswert wird es zwar auch in diesen Fällen sein, 
daß der Staat, um Zweifel zu vermeiden, das veraltete Gesetz ausdrück- 
lich aufhebt; allein eine solche förmliche Aufhebung ist nicht absolut er- 
forderlich, da der Wille des Staates, die neueren veränderten Lebens- 
verhältnisse rechtlich zu regeln und sie Normen, die für andere 
Tatbestände gegeben waren, zu unterwerfen, überhaupt niemals vor- 
handen war, und deshalb auch nicht aufgehoben zu werden braucht. 
Die sogenannte derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechtes reduziert 
sich daher auf eine Interpretation des Gesetzes und auf die 
Regel, daß das Gesetz auf solche Fälle nicht anzuwenden ist, auf 
welche es selbst nicht angewendet werden will’). Einen sehr be- 
merkenswerten Grundsatz stellt in dieser Beziehung das Reichsgesetz 
über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900 auf. Nachdem es 
im $ 19 die in den Konsulargerichtsbezirken geltenden Gesetze be- 
zeichnet hat, fügt es im 8 20, Absatz 1 hinzu: »Die im $ 19 erwähn- 
ten Vorschriften finden keine Anwendung, soweit sie Einrich- 
tungen und Verhältnisse voraussetzen, an denen es für 
den Konsulargerichtsbezirk fehlt.« Was hier hinsichtlich des örtlichen 
Geltungsbereichs der Gesetze angeordnet ist, gilt auch für die zeitliche 
Geltungsdauer; die Gesetze werden unanwendbar mit dem Verschwin- 
den »der Einrichtungen und Verhältnisse, welche sie voraussetzen«, 
dagegen nicht durch die geheimnisvolle Kraft eines mystischen Rechts- 
bewußtseins der »Volksseele«. 
IV. Nach den Eingangsworten des Art. 2 übt das Reich das Recht 
der Gesetzgebung » innerhalb dieses Bundesgebietes« aus. 
Diese Worte können unmöglich ausdrücken wollen, daß die Reichs- 
gesetze außerhalb des Bundesgebietes nicht gelten. Denn teils versteht 
es sich von selbst, daß die Staatsgewalt der Regel nach nur in dem 
ihr unterworfenen Gebiete sich wirksam entfalten kann; die Worte 
würden daher einen äußerst trivialen Sinn haben, wenn sie nur her- 
vorheben sollen, daß das Reich dem Ausland keine Gesetze geben 
könne. Teils würden sie etwas offenbar unrichtiges aussagen; denn 
es ist zweifellos, daß das Reich auch solche Gesetze geben kann, welche 
. 1) Eine weitere Ausführung dieses mit der herrschenden Theorie vom Gewohn- 
heitsrecht im Widerspruch stehenden Gedankens muß ich mir für eine andere Ge- 
legenheit vorbehalten. Vgl. die Erörterungen von Rümelin in Jherings Jahrbüchern 
für die Dogmatik Bd. 27 S. 153 ff.
	        
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