$ 74. Das Eisenbahnwesen. 113
sichtsrecht der Bundesregierungen über die in ihren Gebieten gelegenen
Eisenbahnen nach Maßgabe der landesgesetzlichen Bestimmungen un-
angetastet und begründeten nur Pflichten der Einzelstaaten über die
Art und Weise, wie sie die ihnen zustehenden Befugnisse ausüben sol-
len. Darauf beruht die eigentümliche Fassung fast aller Bestimmungen
dieses Abschnitts der Reichsverfassung. Nach Art. 41, Abs. 2 ist jede
bestehende Eisenbahnverwaltung »verpflichtet« zu einer Duldung; nach
Art. 42 »verpflichten sich« die Bundesregierungen; nach Art. 43 »sol-
len« übereinstimmende Betriebseinrichtungen getroffen werden; nach
Art. 44 sind die Eisenbahnverwaltungen zur Einführung der erforder-
lichen Züge »verpflichtet«; nach Art. 45 wird das Reich »dahin wir-
ken«, daß gewisse Einrichtungen eingeführt werden; nach Art. 46 sind
die Eisenbahnverwaltungen »verpflichtet«, bei Notständen gewisse
Tarifermäßigungen zu gewähren. Diese in so vielen Stellen übereinstim-
mend gebrauchte Ausdrucksweise, welche sich nur in dem das Eisen-
bahnwesen betreffenden Abschnitt der Reichsverfassung findet, schließt
die Annahme vollkommen aus, daß es sich um eine ungenaue Fas-
sung, ein Redaktionsversehen handelt'!). Die Verfassung geht von einem
klaren und konsequent durchgeführten Prinzip aus. Die Träger aller
in den erwähnten Artikeln normierten Pflichten sind die Bundes-
regierungen oder die ihnen unterstellten Eisenbahnverwaltungen;
vonihnen sind diese Pflichten zu erfüllen?). Nicht das Reich hat
die erwähnten Einrichtungen zu treffen, sondern nur die Erfüllung
dieser Pflichten seitens der Bundesstaaten zu beaufsichtigen und
nötigenfalls zu erzwingen. Die Pflichten, welche die Reichsverfas-
sung den Bundesregierungen auferlegt, sind aber nicht denkbar ohne
die Rechte, welche zur Erfüllung der Pflichten erforderlich sind;
die Rechte sind das Korrelat der Pflichten und daher in der Reichs-
verfassung durch die Begründung dieser Pflichten anerkannt. Diese
Regelung des Verhältnisses zwischen dem Reich und den Einzelstaaten
mag sehr unbefriedigend und verbesserungsbedürftig erscheinen; für
die Auslegung der Reichsverfassung und die Darlegung des geltenden
Rechts müssen die Entstehungsgeschichte, der Wortlaut und der in-
nere Zusammenhang der Verfassungsartikel maßgebend sein.
Im einzelnen enthält die Reichsverfassung folgende Vorschriften:
I. Die Grundsätze über die Bedingungen, unter welchen die Her-
stellung einer Eisenbahn rechtlich erlaubt ist, entbehren bis jetzt
jeder reichsgesetzlichen Regelung. Das Eisenbahnmonopol ist dem
Reich nicht beigelegt, ausgenommen in Elsaß-Lothringen. Siehe Bd. II
Ss. 258 ff. Nach dem Landesrecht jedes Bundesstaates bestimmt sich,
unter welchen Bedingungen Kommunalverbänden, Gemeinden oder Pri-
vatpersonen der Bau und Betrieb von Eisenbahnen gestattet ist. Jeder
1) Auch durch die Verhandlungen des verfassungberatenden Reichstags (Stenogr.
Berichte S. 504 ff.) wird diese Annahme ausgeschlossen.
2) Uebereinstimmend HänelS. 644g.