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nur bei der Beratung und Beschlußfassung des Bundesrats und des
Reichstags von Belang werden. Ist das Gesetz formell ordnungsmäßig
zustande gekommen, so ist dadurch auch formell festgestellt, daß ein
Interesse der Landesverteidigung oder des gemeinsamen Verkehrs an
der Herstellung der Eisenbahn vorhanden ist, und jeder weitere Wider-
spruch wegen Mangels dieser verfassungsmäßigen Vorbedingung ist aus-
geschlossen.
Die Ausübung des dem Reiche zustehenden Rechts erfolgt »unbe-
schadet der Landeshoheitsrechte«. Dies ist wörtlich genommen ein
vollständiger Widerspruch mit sich selbst; denn die Ausübung der
Befugnis ist eben nichts anderes als ein Eingriff in die Landeshoheits-
rechte oder vielmehr Art. 41, Abs. 1 enthält eine Beschränkung der
Landeshoheit'!). Der Sinn der Anordnung kann nur der sein, daß dem
Einzelstaat alle diejenigen Landeshoheitsrechte verbleiben, welche das
Reich nicht durch das die Eisenbahnanlage genehmigende Gesetz aus-
drücklich oder nach der Natur der Sache auf sich selbst oder den
Privatunternehmer überträgt. Zu diesen Hoheitsrechten gehört na-
mentlich das im Art. 41 selbst erwähnte Enteignungsrecht ?) sowie die
Handhabung der Bahnpolizei durch Beamte des Betriebsunternehmers.
1) In dem ursprünglichen Entwurf der Verfassung fehlten die Worte; sie sind
auf den Antrag der Regierungskommissare eingeschaltet worden. Anlage zum
zweiten Protokoll vom 28. Januar 1867. Stenogr. Berichte des verfassungberatenden
Reichstages Aktenstück Nr. 10, S. 20.
2) Die ausdrückliche Erwähnung der Verleihung des Expropriationsrechts beruht
auf einem Beschluß des verfassungberatenden Reichstages. Stenogr. Bericht S. 506.
Außer der eigentlichen Enteignung gehört hierher auch die Befugnis des Unterneh-
mers, behufs der erforderlichen Vorarbeiten zum Zweck der Anfertigung ge-
nauer Karten, Pläne, Kostenvoranschläge usw. das Privateigentum zu betreten und
andere Eingriffe in dasselbe vorzunehmen. Es ergibt sich hieraus ein eigentümlicher
eirculus vitiosus. Denn dieses Recht setzt, wenn der Einzelstaat die Verleihung
desselben ablehnt, zu seiner Entstehung ein auf Grund des Art. 41 erlassenes Reichs-
gesetz voraus, welches den Unternehmer mit demselben ausstattet; andererseits kann
der Natur der Sache nach das Gesetz, welches die Anlage der Bahn gestattet, die
erforderlichen Geldmittel bewilligt usw., in der Regel doch erst auf Grund spezieller
Vorarbeiten formuliert werden. — Was das eigentliche Expropriationsrecht anlangt,
so versteht es sich von selbst, daß, wofern das Reichsgesetz die Normen, nach denen
dasselbe ausgeübt werden soll, für die spezielle Eisenbahnanlage nicht besonders
aufstellt, die Gesetze des Bundesstaates, in dessen Gebiet die Eisenbahn herge-
stellt wird, Anwendung finden. Dies setzt Art. 41 offenbar als die Regel voraus.
Darüber besteht auch in der Literatur allgemeines Einverständnis. Auch nach dem
Verf.-Ges. f. Els.-Lothr. v. 31. Mai 1911 $ 24 hat das Reich hinsichtlich der Eisen-
bahnen, welche es selbst baut, zwar das Enteignungsrecht, ohne daß es einer Ver-
leihung desselben seitens der Landesbehörden bedarf, die Durchführung der Enteig-
nung gegenüber den Privatpersonen erfolgt aber durch die Landesbehörden nach
Maßgabe des Landesrechts. Vgl. Heim, Das els.-lothr. Verf.-Ges. S. 117. Die Frage,
ob das Reich befugt sei, ein allgemeines Enteignungsgesetz zu erlassen, ist be-
stritten. Seydel hat dies in der 1. Aufl. seines Kommentars S. 189 verneint, in
der 2. Aufl. S.269 gibt er zu, daß nach Art. 4, Ziff. 8 das Reich zuständig ist, ein
„Eisenbahnenteignungsgesetz* zu erlassen. Vgl. auch Hänel S. 648, Note 12.