292 $ 82. Die Arbeiterversorgung.
Den Schlüssel zum Verständnis der juristischen Natur dieses
Rechtsinstituts bildet der Begriff der Versicherungspflicht oder
richtiger der Versicherungspflichtigkeit. Dieselbe ist keine
Pflicht, einen Versicherungsvertrag oder sonst irgend ein anderes
Rechtsgeschäft abzuschließen; der Anspruch auf Fürsorge entsteht
vielmehr ohne Vermittlung irgend eines Rechtsgeschäftes kraft Gesetzes
für jede Person, hinsichtlich welcher gewisse tatsächliche Voraus-
setzungen gegeben sind. Ebensowenig heißt derjenige versicherungs-
pflichtig, welcher die Fürsorge zu gewähren hat, sondern im
Gegenteil derjenige, welcher sie zu empfangen hat, auf welchen sich
die Fürsorge des Reiches für den Fall der Arbeitsunfähigkeit erstreckt,
welcher von rechtswegen versorgungsberechtigt ist‘, Die
Versicherungspflichtigkeit ist also überhaupt keine Pflicht, sondern ein
rechtlich normierter Zustand, aus welchem bei Eintritt einer Er-
krankung, eines Unfalls oder der Invalidität Ansprüche auf Ver-
mögensleistungen ipso iure hervorgehen ?). Dessenungeachtet ist der
Ausdruck nicht so paradox und willkürlich, wie es hiernach scheinen
könnte. Denn dieser rechtliche, gewisse Ansprüche erzeugende Zu-
stand erzeugt auch zugleich in allen Fällen entweder für den Ver-
sorgungsberechtigten selbst oder für einen Dritten (den Betriebsunter-
nehmer, Dienstherrn usw.) oder für beide zugleich die Verpflichtung
zur Zahlung von Beiträgen an den Träger der Versorgungspflicht?).
Wenngleich daher die Versicherungspflichtigkeit einer Person an und
für sich keine Verpflichtung erzeugt, so hat sie doch ihr notwendiges
Korrelat in einer Zahlungspflicht. Diese Zahlungspflicht mit
Rücksicht auf die Versorgungsberechtigung einer gewissen Person ist
der juristische Kerngedanke der »Versicherungspflicht«; in ihr liegt der
Schwerpunkt der Arbeiterversorgungsgesetze, da sich der staatliche
Zwang natürlich nicht auf Annahme der Fürsorge, sondern auf Lei-
stung der für ihre Gewährung zu zahlenden Beiträge richtet.
Versicherungspflichtig ist mithin eine Person, zu deren Versorgung
die Pflicht zur Zahlung von Beiträgen gesetzlich begründet ist.
Maßgebend für die juristische Natur des Rechtsverhältnisses
ist nun die Beziehung zwischen der Zahlungspflicht und dem Für-
sorgeanspruch. Bei einem Versicherungsvertrage wie überhaupt bei
jedem vertragsmäßigen oder quasikontraktlichen Verhältnisse stehen
sich Leistung und Gegenleistung, Anspruch und Verpflichtung, als die
1) Daß in gewissen Fällen nicht der Versicherungspflichtige, sondern seine Ehe-
frau oder seine Hinterbliebenen die Unterstützungsgelder empfangen, kommt hier
nicht in Betracht; denn die Versorgung der nächsten Angehörigen ist ein eigenes
Interesse des Versicherungspflichtigen.
2) Pröbst S. 327; Rosin S. 432 fg.
3) Nur bei den kleinen land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, welche mit er-
heblicher Unfallgefahr nicht verbunden sind und in denen Lohnarbeiter nur ausnahms-
weise beschäftigt werden, kann eine Befreiung von Beiträgen eintreten und dennoch
der Anspruch auf Fürsorge bei Betriebsunfällen begründet sein. RVO, 8 1012.