Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

8 82. Die Arbeiterversorgung. 295 
Die Reichsversicherungsordnung kennt außer den versicherungs- 
pflichtigen auch versicherungsberechtigte Personen. Die- 
selben können den Anspruch auf Fürsorge für dieselben Unglücksfälle 
und in dem gleichen Maße wie die Versicherungspflichtigen erwerben. 
Das öffentliche Recht greift auch hier ein, aber in anderer 
Art und Weise wie in dem vorhin besprochenen Fall. Es besteht 
auch hier ein Öffentliches Interesse, daß diese Personenklassen der 
Wohltat der Arbeiterversorgung teilhaftig werden ; aber dieses Interesse 
ist kein so dringendes wie hinsichtlich der Versicherungspflichtigen. 
Der Staat übt daher keinen Zwang aus, daß sie wirklich versorgt 
werden, sondern er erleichtert ihnen nur die Möglichkeit sich 
selbst.zu versorgen. Der staatliche Zwang ist nur darauf gerichtet, 
daß die Kassengenossenschaften und Versicherungsanstalten den Bei- 
tritt dieser Personen sich gefallen lassen müssen. Versorgungsansprüche 
und Beitragspflichten entstehen auch für diese »versicherungsfähigen« 
Personen nicht durch einen Vertrag, sondern durch eine einseitige, 
empfangsbedürftige Willenserklärung, welcher eine öffentlichrechtliche 
Pflicht, nicht die Annahme einer Vertragsofferte, gegenübersteht !). 
beruht und daß sie kein privatrechtliches, dem Ohligationenrecht angehörendes Ver- 
hältnis, sondern eine öffentliche Einrichtung ist, so wird dadurch die Anwendbarkeit 
der vom Assekuranzvertrage geltenden Rechtsgrundsätze auf die Arbeiterversicherung 
verneint und der Versicherungstheorie ihre praktische Bedeutung genommen. 
Die Bezeichnung als Versicherung entspricht dem juristisch unbestimmten Sinne, in 
welchem dieses Wortim allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, ist aber für die 
juristische Natur des Verhältnisses nicht maßgebend. Vgl. auch Teznerin Grün- 
huts Zeitschrift Bd. 21, S. 199 fg. Wenn man unter „Versicherung“ etwas anderes 
versteht als die (privatrechtliche) Assekuranz, so ist der Streit, ob die Arbeiterver- 
sorgung eine Versicherung ist, ein bloßer Wortstreit. Pfälzer in der Zeitschrift 
f. Handelsrecht Bd. 44, S. 388 ff. und Bd. 45. S. 1 ff. sieht in der Unfallversicherung 
eine Kollektivversicherung der Betriebsunternehmer gegen die Folgen einer 
ihnen gesetzlich auferlegten Haftpflicht. Daß diese Konstruktion auf die Kranken-, 
Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung nicht paßt, gibt er selbst zu und doch 
sind die Arten der Arbeiterversorgung Anwendungsfälle eines und desselben Prin- 
zips, gleichsam drei Triebe aus derselben Wurzel. Aber auch für die Unfallversiche- 
rung stehen der Konstruktion Pfälzers erhebliche Bedenken entgegen. Es entspricht 
den Anordnungen des Gesetzes nicht, die Fürsorge für die Arbeiter im Hintergrunde 
verschwinden zu lassen und in dem Beitrittszwang zu einer bestimmten Berufsge- 
nossenschaft eine Fürsorge für den Betriebsunternehmer, daß er gegen die 
Haftpflicht versichert sei, zu erblicken. Will man dem Versicherungsgedanken bei- 
pflichten, so Kann nur der Arbeiter als der Versicherte anzusehen sein; die Kon- 
struktion Pfälzers ist ein nutzloser Umweg. Auch die Selbstversicherung der Un- 
ternehmer, die doch als Versicherung gegen eine Haftpflicht nicht gedacht werden 
kann, steht ihr entgegen. Die Reichsversicherungsordnung bezeichnet die von den 
Versicherungsträgern zu machenden Leistungen als „Entschädigung“ ; ihr folgen die 
Kommentare; aber auch diese Charakterisierung ist juristisch unzutreffend, da die 
zu gewährenden Leistungen in keinem Falle nach dem eingetretenen Schaden be- 
messen werden; der Begriff der Entschädigung oder Schadloshaltung aber einen 
Schaden von bestimmter Höhe voraussetzt. Ist die Vollendung des 70. Lebensjahres 
ein Schaden? 
1) Die in den früheren Auflagen dieses Werkes ausgeführte entgegengesetzte 
Ansicht erkenne ich als unrichtig an.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.