Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

$ 82. Die Arbeiterversorgung. Invalidenversicherung. 335 
Tat nicht bloß zwei pekuniäre Leistungen gegenüber, sondern auf 
der einen Seite die getreue Erfüllung eines Lebensberufs, ein der 
nationalen Gesamtheit geleisteter Dienst, und auf der anderen Seite 
eine Fürsorge der Gesamtheit für die in diesem wirtschaftlichen Dienst 
erwerbsunfähig gewordenen Personen und deren Hinterbliebenen. 
Nach dem der Arbeiterversicherung zugrunde liegenden sozialistischen 
Gedanken ist diesseberufsmäßige Arbeitsleistung der eigent- 
lich wesentliche Erwerbstitel für die Invaliden- und Hinterbliebenenrente, 
die Einzahlung der Beiträge dagegen ein durch die finanziellen Ver- 
hältnisse bedingter Notbehelf, der die reine und ideale Gestaltung des 
Rechtsinstituts beeinträchtigt. Würden die Beiträge abgeschafft, aber 
das Erfordernis langjähriger Arbeit gegen Lohn oder Gehalt beibe- 
halten, so würde an dem Wesen der Invaliden- und Hinterbliebenen- 
versorgung der Arbeiter nichts geändert werden, wie ja schon jetzt 
der Arbeiter vermittelst des Reichszuschusses eine höhere Rente 
empfängt, als die dem Kapitalwert seiner aufgesammelten Beiträge 
entsprechende!). Würden dagegen die Beiträge zur einzigen Voraus- 
setzung des Rentenanspruchs erklärt werden, ohne Beschränkung auf 
einen gewissen Beruf der Versicherten, so würde die staatliche Inva- 
liden- und Hinterbliebenenversicherung sich in eine gewöhnliche 
privatrechtliche Leibrentenanstalt verwandeln und den privatwirtschaft- 
lichen fiskalischen Betrieben sich einreihen. Das Reich erkennt die 
Fürsorge für die erwerbsunfähigen und altersschwachen Arbeiter als 
eine aufpolitischen Gründen beruhende, selbständige Staats- 
aufgabe an, nicht als eine Gegenleistung für die eingezahlten Beiträge; 
und nur um diese Aufgabe ohne unerträgliche Ueberbürdung der 
anderen Berufsstände erfüllen zu können, werden von Arbeitern und 
Arbeitgebern Beiträge eingefordert, etwa wie von den Eltern schul- 
pflichtiger Kinder Schulgelder und von den prozeßführenden Parteien 
Gerichtskosten eingezogen werden. Dieser Charakter der Invaliden- 
einanderfolgender Kalenderjahre für weniger als insgesamt 20 (resp. 40) Beitrags- 
wochen Beiträge entrichtet worden sind, erlischt die Anwartschaft. Eine Abkürzung 
der Wartezeit durch Verdoppelung der wöchentlichen Beiträge ist unstatthaft. Alle 
diese Bestimmungen stehen mit dem Wesen einer privatrechtlichen Assekuranz nicht 
im Einklang. 
1) Dies macht sich besonders deutlich auch in den Uebergangsbestimmungen 
des Invalidenversicherungsgesetzes von 1889 geltend, denen zufolge die Zeit vor dem 
Inkrafttreten des Gesetzes, für welche Beiträge nicht geleistet worden sind, trotz- 
dem auf die Wartezeit angerechnet wurde. Zum Erwerb einer Invalidenrente genügte 
in den ersten fünf Jahren die Entrichtung von Beiträgen für ein Beitragsjahr, wenn 
für die zur Vollendung der Wartezeit fehlende Zeit die Ausübung einer versiche- 
rungspflichtigen Beschäftigung nachgewiesen wurde ($ 156). Also die letztere, 
nicht die Einzahlung der Geldbeiträge ist der maßgebende Gesichtspunkt. Aehnlich 
für die Altersrente $ 157. Diese Bestimmungen sind jetzt erledigt; das IVG. vom 
13. Juli 1899, 8& 189 hat aber für die Personen, auf welche die Versicherungspflicht 
ausgedehnt worden ist, ähnliche Bestimmungen getroffen. Vgl. auch das Einfüh- 
rungsges. zur Reichsversicherungsordnung, Art. 64 ff.
	        
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