362 8 83. Gerichtswesen. Einleitung.
Verfahren« (Verf. Art. 4, Ziff. 13). Die Einzelstaaten sollten also
zwar die Gerichtsbarkeit behalten, dieselbe aber nicht nach eigener
Selbstbestimmung (in souveräner Weise) ausüben, sondern nach An-
ordnung des Reiches. Bis zum Erlaß dieser gemeinsamen Gesetzge-
bung blieb allerdings nicht boß die bunte Masse der partikulären
Rechtsvorschriften über das Verfahren in Geltung, sondern der Auto-
nomie der Einzelstaaten war auch ihre Fortbildung und Umgestaltung
überlassen.
Diese verfassungsmäßigen Prinzipien des Gerichtswesens schlossen
zugleich den weiteren Grundsatz ein, daß die Betätigungen der Gerichts-
barkeit jedes Einzelstaates nur innerhalb seines Gebietes staatsrecht-
liche Wirksamkeit haben konnten, da sie durchaus als Ausübung
der den Einzelstaaten verbliebenen Herrschaft erschienen. Um aber
ein Zusammenwirken der Einzelstaaten zum Zweck der Rechtspflege
zu ermöglichen, wurde dem Bund die Befugnis zugewiesen, »Bestim-
mungen über die wechselseitige Vollstreckung von Erkenntnissen in
Zivilsachen und Erledigung von Requisitionen überhaupt« zu erlassen
(Verf. Art. 4, Ziff. 11).
Durch diese drei Punkte, nämlich 1. Ausübung der Gerichtsbar-
keit seitens der Einzelstaaten, 2. nach den vom Bund darüber erlas-
senen Vorschriften und 3. unter gegenseitiger vom Bund zu normie-
render Verpflichtung zur Rechtshilfe, hatte die Verfassung des Nord-
deutschen Bundes die Grundform für die Gestaltung des Gerichts-
wesens festgestellt.
In der Reichsverfassung sind die erwähnten drei Sätze
(Art. 77, Art. 4, Ziff. 13 u. Art. 4, Ziff. 11) zwar völlig gleichlautend mit
den entsprechenden Bestimmungen der Verfassung des Norddeut-
schen Bundes; bei der Gründung des Reiches war aber der wirklich
bestehende Rechtszustand bereits erheblich umgestaltet und eine noch
viel weiter reichende Veränderung desselben war in Aussicht genomniıen
und vorbereitet. Der Norddeutsche Bund war in den wenigen Jahren
seines Bestehens über die erwähnten Grundlinien hinausgegangen und
hatte die verfassungsmäßig fixierten Punkte verschoben.
Er hatte nämlich erstens eine eigene Gerichtsbarkeit
des Bundes anerkannt und organisiert in dem Gesetz vom 12. Juni 1869,
betreffend die Errichtung des Oberhandelsgerichtes in Leipzig, und
dieses Gesetz ist bei der Errichtung des Deutschen Reiches als Reichs-
gesetz anerkannt und auf die süddeutschen Staaten und Elsaß-Loth-
ringen ausgedehnt worden. Ohne daß die Frage hier von neuem er-
örtert werden soll, ob der Erlaß dieses Gesetzes zur Zuständigkeit des
Norddeutschen Bundes gehörte oder nicht und ob das Gesetz mit dem
Wortlaut der Bundesverfassung im Einklang steht oder nicht '), muß
1) Das Gesetz ist in jedem Falle verfassungsmäßig zustande gekommen, da
es im Bundesrat mit Zweidrittelmajorität sanktioniert worden ist. Siehe oben Bd.1,
S. 42, Anm. 3, und Bd. 2, S. 38 ff.