Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

8 83. Gerichtswesen. Einleitung. 363 
hier doch betont werden, daß es in Wahrheit die weitaus erheblichste 
Aenderung bedeutete, welche der Verfassungszustand des Norddeutschen 
Bundes überhaupt von seiner Begründung bis zur Errichtung des 
Reiches erfahren hat. Hier wurden nicht den Einzelstaaten Vorschrif- 
ten erteilt, wie sie die Gerichtsbarkeit auszuüben haben, sondern in 
den zur Zuständigkeit des Oberhandelsgerichts gehörenden Sachen 
wurde ihnen die Gerichtsbarkeit dritter Instanz genommen und auf 
den Bund übertragen. Soweit nicht prozessualische Vorschriften im 
Wege standen, d. h. soweit nicht die partikulären Regeln über die 
Rechtsmittel den Parteien die Möglichkeit abschnitten, die Rechtsstrei- 
tigkeiten an das Oberhandelsgericht zu ziehen, vermochten die Einzel- 
staaten jetzt nicht mehr durch ihre Gerichte unbedingt rechts- 
kräftige Entscheidungen fällen zu lassen; denn diese Entscheidungen 
wurden nur unter der Voraussetzung rechtskräftig, daß sich die Par- 
teien bei den Urteilen der territorialen Gerichte beruhigten, indem sie 
die Einlegung eines Rechtsmittels unterließen. Es war daher der Ge- 
richtsbarkeit der Einzelstaaten in den zur Zuständigkeit des Oberhan- 
delsgerichts gehörenden Angelegenheiten die Spitze abgebroehen; die 
von den Landesgerichten gefällten Urteile waren in vielen Fällen nur 
noch Etappen im Prozeßgange, die eine Instanz, d. h. einen ProzeB- 
abschnitt, aber nicht notwendig den Prozeß beendigten, nicht for- 
melles Recht unter den Parteien schufen und nicht (definitiv) voll- 
streckbar waren. Eines der wichtigsten Hoheitsrechte, die das allge- 
meine Staatsrecht überhaupt kennt, war sonach durch das Gesetz vom 
12. Juni 1869 — wenngleich in sachlicher Hinsicht in enger Abgren- 
zung — von den Einzelstaaten auf den Bund übergegangen. Dies war 
eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Einzelstaat und Bund 
von prinzipieller Bedeutung. 
Zwar hat die Verfassung des Norddeutschen Bundes nirgends 
ausdrücklich bestimmt, daß der Bund keine eigene Gerichtsbar- 
keit haben solle, oder daß den Einzelstaaten der Anspruch auf unge- 
schmälerten Vollbesitz dieses Hoheitsrechts zustehe; die sehr vage 
Fassung von Art. 4, Ziff. 13 ließ vielmehr einer Interpretation Raum, 
wonach die Bundesgesetzgebung »das gerichtliche Verfahren« in jeder 
beliebigen Weise regeln konnte, also auch so, daß die Gerichtsbarkeit 
den Einzelstaaten ganz oder teilweise genommen wurde. Allein es be- 
steht darüber ja allseitige Uebereinstimmung, daß die Verfassung des 
Norddeutschen Bundes in der Art auszulegen war, daß den Einzel- 
staaten alle Hoheitsrechte verblieben sind, welche ihnen nicht durch 
die Verfassung entzogen wurden, da Zweck und Aufgabe dieser Ver- 
fassung darin bestand, nicht die Kompetenz der Einzelstaaten, sondern 
die Kompetenz der Bundesgewalt zu bestimmen und die Ein- 
schränkungen, welche die Hoheitsrechte der Einzelstaaten durch 
Gründung des Bundes erfuhren, festzustellen. Das Schweigen der 
Verfassung über die Errichtung eines Bundesgerichts bedeutete daher
	        
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