366 8 83. Gerichtswesen. Einleitung.
einzelnen Staates beschränkt, so erstreckte sich materiell doch seine
Wirksamkeit auf das ganze Bundesgebiet und über alle in demselben
sich aufhaltenden Personen. Diese Gewalt kann nicht aus der Staats-
gewalt des Einzelstaates hergeleitet werden; die wahre Quelle dieser
einheitlichen, das ganze Reich umfassenden Gerichtsgewalt kann nur
die Reichsgewalt selbst sein. Wenngleich die Gerichte von den Staa-
ten errichtet, besetzt und verwaltet werden, so üben sie doch auf dem
Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein Hoheitsrecht aus, welches
in der Reichsgewalt wurzelt und dessen oberstes Subjekt das Reich ist.
Im Prinzip war es bereits bei der Gründung des Reichs entschieden,
daß die Einzelstaaten hinsichtlich der Gerichtsbarkeit nicht isoliert
und unabhängig sind, sondern daß sie zu einem einheitlichen Rechts-
pflegesystem verfassungsmäßig verbunden werden. Der vollen und
konsequenten Durchführung dieses Prinzips standen nur die großen
Verschiedenheiten des materiellen Rechts, der Gerichtseinrichtungen
und der Prozeßordnungen noch hindernd im Wege.
Dieser dritte Punkt war der wichtigste; die Herstellung der in der
Verfassung Art. 4, Ziff. 13 erwähnten »gemeinsamien Gesetze über das
gerichtliche Verfahren« blieb die bedeutendste, aber freilich auch
schwierigste Aufgabe. Auch ihre Lösung wurde bereits während des
Bestehens des Norddeutschen Bundes in Angriff genommen und wurde
durch die umfassende Justizgesetzgebung des Reichs gelöst. Eine Aufzäh-
lung dieser Gesetze ist jetzt nicht mehr erforderlich; in allen Kommen-
taren zu diesen Gesetzen und in allen Lehrbüchern der betreffenden
Materien wird ihre Entstehungsgeschichte ausführlich dargestellt.
Diese Reichsgesetzgebung hat aber weder das ganze Gerichts-
wesen und die ganze Gerichtsbarkeit geregelt, noch hat derjenige
Teil des Gerichtswesens, welcher von der Reichsgesetzgebung betroffen
worden ist, eine vollständige Regelung erfahren. Demgemäß
findet die Gesetzgebung des Reiches in doppelter Beziehung ihre Er-
gänzung in der Landesgesetzgebung; die letztere enthält teils die er-
forderlichen Ausführungsbestimmungen zu den Reichsgesetzen,
teils die selbständige Regelung eines Gebietes, welches von der
Reichsgesetzgebung nicht beherrscht wird, tatsächlich aber unter dem
Einfluß der reichsgesetzlichen Einrichtungen und Anordnungen steht!).
II. Bei der Behandlung des Gerichtswesens des Deutschen Reiches
entsteht eine eigentümliche Schwierigkeit hinsichtlich der Auswahl und
Abgrenzung der zu erörternden Lehren. Es kann nicht die Aufgabe
einer Darstellung des Reichsstaatsrechts sein, den gesamten StrafprozeB
und Zivilprozeß, das Konkursverfahren, die Ordnung der Anwaltschaft
usw. zu erörtern; das Gerichtsverfahren hat von jeher den Gegenstand
eines besonderen, reich entwickelten Zweiges der Rechtswissenschaft
1) Eine sehr gute Uebersicht der in Anlaß der Reichsjustizgesetze ergangenen
Landesgesetze auf dem Gebiete des Prozeßrechts gibt Binding, Grundriß des
Strafprozeßrechts (5. Aufl. 1904) S. 47 ff.