$ 83. Gerichtswesen. Einleitung. 367
gebildet, der nach seinem Stoff, seinen Quellen, seiner Literatur von
dem Staatsrecht getrennt ist. Wenngleich die gesamte Wirksamkeit
der Gerichte eine Entfaltung der staatlichen Tätigkeit ist, durch welche
eine der wesentlichsten Staatsaufgaben realisiert wird, so ist doch das
von ihnen zu beobachtende Verfahren nur an gewissen Punkten von
staatsrechtlichen Prinzipien beeinflußt; im wesentlichen beruht
die Ordnung des Verfahrens auf technisch-juristischen Ge-
sichtspunkten, deren Durchführung Garantien einer gerechten, unpar-
teiischen und sachgemäßen Erledigung der Rechtsstreitigkeiten ge-
währen soll’). Andererseits kann aber die Aufgabe einer Darstellung
des Staatsrechts nicht für genügend gelöst erachtet werden, wenn man
nach dem Vorbilde der meisten deutschen Staatsrechtsschriftsteller sich
damit begnügt, die Unabhängigkeit des Richteramtes als ein Postulat
der modernen Staats- und Rechtsidee hinzustellen und die Grenzen
zwischen Justiz und Verwaltung mit größerer oder geringerer Breite
zu behandeln. Diese Dürftigkeitin der Erörterung einer der wichtig-
sten staatlichen Lebensfunktionen steht mit der Ausführlichkeit, welche
anderen weit untergeordneteren Teilen des Staatsbaues zugewendet zu
werden pflegt, in einem auffallenden Gegensatz, und sie kann dadurch
nicht ausgeglichen werden, daß man außer einigen scholastischen
Definitionen und Einteilungen historische Exkurse über die Entwick-
lung des Gerichtswesens und des Gerichtsverfahrens seit dem Miitel-
alter oder gar seit der Römerzeit einschaltet. Damit kann dem Be-
dürfnis nach einer wissenschaftlichen, zusammenhängenden, dogma-
tischen Erörterung der Rechtsgrundsätze, welche das Wesen und Wir-
ken des Staates der Gegenwart beherrschen, nicht abgeholfen werden.
Die Aufgabe ist vielmehr dahin zu bestimmen, daß die in der Ge-
richtsbarkeit zur Anwendung und Ausübung kommenden Herrschafts-
rechte des Staates nach ihren Voraussetzungen, ihrem Umfange und
der Art ihrer Geltendmachung erkannt und dargestellt werden. Die
Prozeßgesetze enthalten neben den umfangreichen Vorschriften über
das Verfahren im weitesten Sinne des Wortes, die man als die eigent-
lichen prozessualischen Rechtssätze bezeichnen kann, einen
sehr erheblichen Bestand an staatsrechtlichen Normen. Dieser
Bestand wird nach dem in der deutschen Rechtsliteratur bestehenden
Herkommen in den Werken über Staatsrechts fast ganz übergangen,
in den Werken über Zivil- und Strafprozeß im Gemenge mit dem
eigentlichen Prozeßrecht behandelt. Wenngleich zugegeben werden
muß, daß diese Behandlung seitens der Prozeßschriftsteller eine voll-
ständige, den ganzen Stoff umfassende ist, so ist doch die Beleuchtung
dieses Stoffes eine einseitige, da sie eben nicht vom Standpunkt des
—
1) Daher können mehrere Staaten, deren Verfassungsrecht eingreifende Ver-
schiedenheiten zeigt, doch ein im wesentlichen übereinstimmendes Prozeßrecht haben
und in Frankreich blieben die napoleonischen Prozeßordnungen trotz allen Verfas-
sungsänderungen in Geltung.