Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

370 8 84. Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit. 
Für das Reichsstaatsrecht ist aber Eine Einteilung der Ge- 
richtsbarkeit von hervorragender Wichtigkeit, wonach das Gesamt- 
gebiet derselben in zwei große Teile zerfällt. Der eine dieser beiden 
Teile wird gebildet von der ordentlichen streitigen Gerichts- 
barkeit, der andere von allen übrigen zur Gerichtsbarkeit gehö- 
renden Betätigungen der Staatsgewalt. Die eingreifende staatsrechtliche 
Bedeutung dieser Unterscheidung besteht darin, daß die Ausübung der 
ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit durch Reichsgesetze geregelt, 
die der übrigen Gerichtsbarkeit zur Zeit noch im wesentlichen der 
Autonomie der Einzelstaaten überlassen ist!), daß sonach das Verhält- 
nis der Einzelstaaten zum Reich auf diesen beiden Gebieten ein wesent- 
lich verschiedenes ist. 
Obgleich im Art. 2 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfas- 
sungsgesetz der Grundsatz sanktioniert ist, daß die Vorschriften des 
Gerichtsverfassungsgesetzes nur auf die ordentliche streitige Gerichts- 
barkeit und deren Ausübung Anwendung finden, hat die Reichsgesetz- 
gebung den Begriff der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit nicht 
definiert. Das Gerichtsverfassungsgesetz hat aber im $ 12 diejenigen 
Gerichte aufgezählt, durch welche die ordentliche streitige Gerichts- 
barkeit ausgeübt wird, und im $ 13 die Zuständigkeit dieser Gerichte 
dadurch geregelt, daß es ihnen allebürgerlichenRechtsstrei- 
tigkeiten und Strafsachen zuweist, welche ihnen nicht ent- 
zogen sind, sei es durch gänzliche Versagung des Rechtsweges, sei es 
durch Errichtung besonderer Gerichte. Hiernach läßt sich aus der 
Reichsgesetzgebung die formale Definition gewinnen: 
Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit umfaßt diejenigen 
bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, welche vor 
die im Art. 12 des Gerichtsverfassungsgesetzes aufgezählten 
(sogenannten »ordentlichen«) Gerichte gehören. 
Im Einklange hiermit ist in den Einführungsgesetzen zur Zivil- 
prozeßordnung und zur Strafprozeßordnung $ 3 bestimmt, daß diese 
Prozeßgesetze auf diejenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten beziehent- 
lich Strafsachen, welche vor die ordentlichen Gerichte ge- 
hören, Anwendung finden; d.h. daß sie nur für die ordentliche strei- 
tige Gerichtsbarkeit vom Reich erlassen sind. 
Nach dieser Definition der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit 
wird dieselbe durch folgende Begriffsmomente, die einer näheren Er- 
örterung bedürfen, bestimmt: 
1. Die »sstreitige« Gerichtsbarkeit ist nicht auf die Fälle be- 
schränkt, in welchen ein Streit der Parteien zu entscheiden ist, sondern 
gungen entsprechen; für einen bestimmten praktischen oder theoretischen Zweck ist 
immer nur eine Einteilung von Bedeutung. 
1) Durch die Grundbuchordnung und das Reichsgesetz über die freiw. Gerichts- 
barkeit hat diese Autonomie allerdings eine erhebliche Einschränkung erfahren. Vgl. 
R. Schmidt, Aenderungen des Zivilprozeßrechts S. 18 fg.
	        
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