Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

372 8 84. Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit. 
den Individuen gerade dadurch einen gewissen Kreis persönlicher Frei- 
heit, daß er ihre privatrechtlichen Beziehungen nicht regelt, nicht 
inhaltlich fixiert. Er hat daher auch nicht die Aufgabe, darüber zu 
wachen, daß die infolge dieser Freiheit begründeten Ansprüche im 
Einklang mit den objektiven Rechtsregeln verwirklicht werden. Das 
bürgerliche Unrecht als solches ruft nicht die Repression des Staates 
hervor; er ist nicht der Wächter und Beschützer der Privatrechte um 
ihrer selbst willen; er statuiert vielmehr ebenso wie in der Begründung, 
so auch in der Geltendmachung der Rechtsansprüche das Dispositions- 
recht der Parteien‘. Der Staat hat daher kein eigenes und unmittel- 
bares Interesse, die konkreten Privatrechtsverhältnisse der ihm unter- 
worfenen Individuen »festzustellten«, und seine Aufgabe kann unmög- 
lich darin bestehen, den Parteien durch Urteile der Gerichte authen- 
tische Belehrungen über das wechselseitige Maß ihrer Ansprüche und 
Verpflichtungen zu erteilen °). 
Die Aufgabe des Staates besteht vielmehr nur darin, den ihm unter- 
worfenen Personen Rechtsschutz zu gewähren, d. h. den Land- 
frieden aufrecht zu erhalten und die Selbsthilfe auszuschließen und dafür 
dem einzelnen mittelst der Staatsgewalt zu seinem Rechte zu ver- 
helfen?°). Die Erfüllung dieser Aufgabe erkennt der Staat als seine 
Pflicht an und hieraus ergibt sich, daß der einzelne ein Re-cht hat, 
die Gewährung des Rechtsschutzes vom Staat zu verlangen, sooft er der- 
selben benötigt ist‘. Die Klageistdemnach die Bitte um 
1) Bülow, Dispositives Zivilprozeßrecht (Archiv f. zivil. Praxis Bd. 64), S. 12 ff. 
und jetzt dessen Geständnisrecht 1899, S. 229 ff., 243 ff. Ausgenommen sind nur die- 
jenigen Verhältnisse, welche zwar in gewissen Beziehungen, z. B. prozessualisch, als 
privatrechtliche behandelt werden, an denen der Staataber ein Dispositionsrecht der 
Parteien nicht anerkennt, weil sie öffentlichrechtlicher Natur sind, wie z.B. die 
Ehe; ferner die zahlreichen Beschränkungen der individuellen Dispositionsbefugnis 
aus Gründen der sogenannten Sozialpolitik. 
2) Aus diesem Grunde ist in Zivilprozessen das Gericht nicht befugt, einer Par- 
tei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. Zivilprozebordnung: & 308. 
3) Vgl. A.S. Schultze, Privatrecht und Proz. S. 82: „Die Staatsgewalt hat 
an der Vollstreckung und dem Erfolge der einzelnen konkreten Zivilexekution nie- 
mals ein unmittelbares Interesse und handelt deshalb niemals kraft eigenen, spon- 
tanen Willens... Es ist das Interesse der Staatsgewalt an ihrer eigenen Existenz 
und damit an der Existenz des Staates, an der Aufrechterhaltung der öffentlichen 
Ordnung und des öffentlichen Friedens.“ Vgl. ferner John, Strafprozeßordnung II, 
S. 104; Bülow a.a. O.; R. Schmidt, Lehrbuch des Zivilproz., 2. Aufl., S. 16 fg. 
— Unrichtig Gierke in Schmollers Jahrbuch VII, S. 1181, und ganz verfehlt Koh- 
ler, Der Prozeß als Rechtsverhältnis 1888 und Prozeßrechtl. Forschungen 1889, 
Ss. 638 ff. 
4) Es bedarf wohl kaum der Hervorhebung, daß das Recht, welches durch An- 
stellung der Klage ausgeübt wird, sich nicht gegen den Richter, sondern gegen den 
Staat richtet. Dessenungeachtet ist diese Verwechslung ziemlich häufig. Der 
Richter kommt nur als Organ des Staates in Betracht, und am Prozeßverhältnis ist 
nicht „der Richter“, sondern der Staat beteiligt. Der Richter, welcher Recht 
weigert, verletzt allerdings nur seine Amtspflicht (Wach in Grünhuts Zeitschr. VI],
	        
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