$ 84. Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit. 373
diese Feststellung erschöpft aber nicht die Bedeutung des rechtskräf-
tigen Urteils; sie ist nur präparatorisch für die Hauptentscheidung, ob
dem Kläger zur Durchführung seines Anspruches die Macht des Staats
zu leihen sei oder nicht !). Die Gerichte sind Verwalter der staatlichen
Herrschermacht und ihre Urteile sind keine von Staats wegen
erteilten Rechtsgutachten oder Wahrsprüche, sondern Betätigungen
der Staatsgewalt’). Dadurch daß der Staat durch das Gericht als
sein Organ in der formellen Weise des Urteils den im Tenor bezeich-
neten Rechtsanspruch anerkennt, wird von ihm ein Recht in concreto
sanktioniert, wie im Gesetz ein Rechtssatz in abstracto; und ebenso
wie das Gesetz nicht bloß die Feststellung und Formulierung eines
Rechtssatzes, sondern die Ausstattung desselben mit verbindlicher
Kraft ist, d.h. den Befehl enthält, ihn zu befolgen, so ist auch das
Urteil nicht bloß Feststellung des konkreten Rechts?°), sondern
zugleich ein staatlicher Befehl an alle, die es angeht, sich so zu
verhalten, wie es dem im Urteil festgestellten Rechtsverhältnis gemäß
ist *). Dieser Befehl geht zunächst an die Parteien. Das kondem-
natorische Urteil ist der Befehl an den Verklagten, den durch das Ur-
teil festgestellten Rechtsanspruch zu erfüllen, unter der Drohung, daß
im Falle des Zuwiderhandelns auf Verlangen des Klägers die Befolgung
dieses Befehls durch die Staatsgewalt und durch die physischen Macht-
mittel des Staats erzwungen werden würde. Die rechtskräftige Ab-
weisung der Klage ist die Versagung des staatlichen Rechtsschutzes
für den vom Kläger erhobenen Anspruch und schließt den Befehl in
sich, daß der Kläger dem Verklagten gegenüber sich demgemäß zu
verhalten habe, z. B. ihn im ruhigen Besitz des beanspruchten Gegen-
1) Dies wird jetzt auch in sehr klarer Weise entwickelt vonHeyßlerin Grün-
huts Zeitschr. Bd. 11 (1884), S. 27 ff.
2) Wach, Zivilprozeß I, S.9 fg. Anderer Ansicht Gierke in Schmollers
Jahrb. VII, S. 1180 fg.
3) Dies ist die Ansicht von A. S. Schultze; nach ihm ist das Urteil im heu-
tigen Recht lediglich Feststellung des konkreten Rechts und enthält überhaupt keinen
„Rechtsbefehl“ ; das „autoritative“ Element im Urteil erblickt er allein in der Unab-
änderlichkeit. Vgl. dessen Konkursrecht S. 144 ff.; Privatrecht und Prozeß S. 125,
224, 581 ff., 599. Zeitschr. f. d. Zivilprozeß Bd. 12, S. 472 fg. Aber der Umstand,
daß die Rechtswirkung des Urteils ganz unabhängig ist von seiner Wahrheit,
d. h. materiellen Richtigkeit, beweist, daß sie nicht auf eine logische Denkope-
ration, sondern auf einen Befehl zurückzuführen ist. Vgl. Bierling, Kritik der
jurist. Grundbegriffe II, S. 2834 ff. Auch Schanze in der Zeitschrift für die ges.
Strafrechtsw. Bd. 4, S. 451 kommt diesem Gedanken nahe.
4) Vgl. Degenkolba.a.0.88 14ff. Bernatzik, Rechtsprechung und ma-
terielle Rechtskraft (1886), S. 129. „Die Imperative, welche aus der unanfechtbar ge-
wordenen oder endgültigen Entscheidung entspringen, bestehen in dem generellen
Befehle der Rechtsordnung an alle Normunterworfenen, ihre künftigen Handlungen
so einzurichten, daß sie mit dem in der Entscheidung liegenden Schlusse nicht in
Widerspruch geraten.“ Merkel, Enzyklop. $ 347”. Kuttner in Iherings Jahr-
büchern Bd. 50 S. 503 ff. Vgl. hinsichtl. der Rechtswirkung negativer Feststellungs-
urteile die Entsch. des Reichsger. Bd. 78, S. 395.