A400 8 85. Die Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten.
ganze Bundesgebiet aus, und weder die Gültigkeit noch die Erzwing-
barkeit der von seinen Gerichten erlassenen Befehle ist davon bedingt,
daß die Personen, an welche sie gerichtet sind, gerade diesem Staate
angehören oder in seinem Gebiete ihren Wohnsitz oder Aufenthalt
haben. In dieser Beziehung bedarf es daher keiner Rechtshilfe unter
den Staaten; sie wäre gegenstandslos '. Die Durchführung dieses
Prinzips ist aber nur möglich, wenn für die Gerichte sämtlicher
Bundesstaaten dieselben Zuständigkeitsnormen gelten, weil sonst die
Gerichtsgewalten der verschiedenen Staaten miteinander in Kollision
geraten würden. Daher ist die Gerichtsbarkeit jedes einzelnen Staates
zwar nach der einen Seite sehr erheblich erweitert, indem sie auf das
ganze Bundesgebiet sich erstreckt; nach der andern Seite aber wesentlich
beschränkt, indem sie nur nach Maßgabe der reichsgesetzlichen Vor-
schriften über die Zuständigkeit der Gerichte ausgeübt werden darf’).
Die in den Reichsgesetzen enthaltenen Regeln über die sachliche und
örtliche Zuständigkeit der Gerichte setzen der Gerichtsbarkeit, d. h. der
Staatsgewalt der Einzelstaaten, feste Grenzen und entkleiden sie da-
durch des Merkmals der Souveränität.
2. Die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit jedes Bundesstaats über das
ganze Bundesgebiet erfordert nicht nur einheitliche Regeln über die
Zuständigkeit der einzelnen Gerichte, sondern auch eine Garantie für
gleichmäßige und übereinstimmende Auslegung und Handhabung der
Gesetze (Rechtsnormen). Diese Garantie kann der Natur der Sache nach
nur in der Uebertragung der Gerichtsbarkeit letzter Instanz auf das
Reich selbst, in der Errichtung eines obersten Reichsgerichts bestehen.
Hierdurch erleidet die Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten eine wesent-
liche Beschränkung, sie wird durch die Gerichtsbarkeit des Reiches
nicht nur ergänzt, sondern beherrscht; es fehlt ihr die selbständige
Spitze, sie läuft in die Gerichtsbarkeit des Reiches ein, wo sie erst
ihren Abschluß findet). Damit ist vollkommen vereinbar, daß nicht
in allen Prozeßsachen die Entscheidung des Reichsgerichts eingeholt
werden kann, die Zuständigkeit des letzteren vielmehr durch das
Rechtsmittelsystem bestimmt und an gewisse Voraussetzungen gebunden
ist; denn diese Voraussetzungen sind prozeßrechtlicher, nicht staats-
rechtlicher Natur; sie beruhen auf technischen Erwägungen und dem
Bedürfnis nach einer gewissen Oekonomie des Verfahrens; sie finden
in ganz derselben Weise auch in dem Rechtsmittelsystem des sou-
veränen Einheitsstaates Berücksichtigung ‘).
1) Vgl. unten $ 837.
2) John I, S. 178 ff. stellt den Satz auf, daß die Gerichte zwar hinsichtlich der
Justizverwaltung Landesbehörden, dagegen hinsichtlich der Rechtspflege Reichsbe-
hörden seien, was weit über das Ziel hinausschießt und zu den unhaltbarsten Kon-
sequenzen führen würde. Gegen ihn erklärt sich auch Bierling'in der Zeitschrift
für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 10, S. 311 ff. (1889).
3) Vgl. den folgenden Paragraphen.
4) Deshalb kann die Annahme Bindings, Grundriß des Strafprozeßrechts