474 $ 91. Der Gerichtsdienst.
1. Normativbestimmungen für die richterlichen
Landesbeamten.
a) Damit eine einigermaßen gleiche Vorbildung der richterlichen
Beamten im ganzen Bundesgebiete gesichert werde, ist die Fähigkeit
zum Richteramt von Reichs wegen an gewisse Voraussetzungen ge-
bunden, von denen kein Einzelstaat abgehen darf. Um die Qualifi-
kation zu erwerben, ist die Ablegung »zweier Prüfungen« erfordert.
Der ersten Prüfung muß ein mindestens dreijähriges Studium der
Rechtswissenschaft auf einer Universität vorangehen, und von diesem
Zeitraum sind wenigstens drei Halbjahre aufeiner deutschen, d.h.
im Bundesgebiete gelegenen Universität zu verbringen. Zwischen der
ersten und zweiten Prüfung muß ein Zeitraum von mindestens drei
Jahren liegen, der im Dienste bei den Gerichten und bei den Rechts-
anwälten zu verwenden ist, auch zum Teil bei der Staatsanwaltschaft
verwendet werden kann!'). Auf diese wenigen Bestimmungen, die nur
eine ganz äußerliche Ordnung der Ausbildung für das Richteramt ent-
halten, hat sich die Reichsgesetzgebung beschränkt. Es fehlt nicht nur
eine materielle Regelung des Universitätsstudiums?) und der Art und
Weise des Vorbereitungsdienstes, sondern insbesondere auch eine all-
gemeine Prüfungsordnung’). Den Einzelstaaten ist daher der Erlaß
von Vorschriften über dieZusammensetzung von Prüfungskommissionen,
über die Gegenstände der Prüfungen, über die Art und Weise, in wel-
cher dieselben vorzunehmen sind, über die an die Kandidaten zu
stellenden Anforderungen usw. überlassen. Ebenso ist es den Einzel-
staaten freigestellt, die Beschäftigung der Referendare bei den Ge-
richten, Rechtsanwälten und Staatsanwaltschaften zu regeln und die
Verteilung der Vorbereitungszeit zu bestimmen; ja sie dürfen sogar
anordnen, daß ein Teil der letzteren, jedoch höchstens ein Jahr, im
Dienste bei Verwaltungsbehörden verwendet werden muß oder ver-
wendet werden darf‘). Die reichsgesetzlich vorgeschriebenen Zeiträume
von je drei Jahren für das Universitätsstudium und für den Vorbe-
reitungsdienst sind übrigens nur Minimalforderungen, über welche die
1) Gerichtsverfassungsgesetz $ 2, Abs. 1—3. Die Rechtsanwälte sind verpflichtet,
den Referendaren Anleitung und Beschäftigung zu geben. Rechtsanwaltsordnung
8& 40. Die Beschäftigung bei den Rechtsanwälten ist obligatorisch ; die Landesjustiz-
verwaltung kann nicht davon dispensieren. Vgl. Stenogr. Berichte des Reichstags
1876, S. 175 ff.
2) Auch die Ablegung des Abiturientenexamens auf einem Gymnasium ist
reichsgesetzlich nicht erfordert.
3) Der Grund für diese Zurückhaltung war die Rücksicht auf die sogenannte
Justizhoheit der Einzelstaaten ; der Regierungsentwurf des Gerichtsverfassungsgesetzes
enthielt gar keine Bestimmungen über die Befähigung zum Richteramt; was das
Gesetz darüber sagt, ist erst von der Reichstagskommission hinzugefügt worden.
Vgl. die interessanten Verhandlungen derselben in den Protokollen I. Lesung S. 73 ff.
(Hahn S. 371 ff.)
4) Gerichtsverfassungsgesetz $ 2, Abs. 4.