8 93. Das Begnadigungsrecht. 909
Strafprozeßordnung geht dahin, daß die Staatsanwaltschaft wegen aller
gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten
habe, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen; der
Abolitionsbefehl geht dahin, daß im konkreten Falle dieses
Einschreiten zu unterbleiben habe, trotzdem die im $& 152 cit. erfor-
derten Voraussetzungen gegeben sind. Das Gesetz schreibt vor, daß
rechtskräftige Strafurteile nach Maßgabe der in der Strafprozeßordnung
88 481 ff.igegebenen Regeln zu vollstrecken sind; derBegnadigungs-
befehl im engeren Sinne verbietet die Befolgung dieses Gesetzesbefehls
ganz oder teilweise oder er setzt an die Stelle der im Urteil ausge-
sprochenen Strafe eine andere, mildere.
Wir haben es demnach im Begnadigungsakt mit einer Aeußerung
der Staatsgewalt von ungewöhnlicher Kraft zu tun, mit einem Ver-
waltungsbefehl, der die gesetzlichen Schranken, die allen anderen Ver-
waltungsbefehlen gezogen sind, sprengt und der den Urteilsbefehl des
Gerichts seiner Wirkung beraubt. Der Gnadenakt ist eine Aeußerung
eines ius eminens des Staates, welches weder durch Gesetz noch
Richterspruch gebunden ist; ein Veto gegen den Lauf von Gesetz und
Recht '').
Deshalb ist die Vorstellung eingewurzelt, daß das Recht der Be-
gnadigung das spezifische Vorrecht des Souveräns, das Souveräniläts-
recht xar’ &£oxyv sei. Das Wahre daran ist, daß die Begnadigung ein
staatlicher Akt ist, bei welchem die Trennung der staatlichen Funk-
tionen in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung verschwindet
und der deshalb unmittelbar aus dem Zentralpunkt der staat-
lichen Gewalt hervorgeht. Nur darf man daraus nicht die falsche
Folgerung herleiten, als sei es dem Souverän untersagt, die Ausübung
des Begnadigungsrechts im Wege der Delegation zu übertragen, wo-
daß eine Strafvollstreckung oder Strafverfolgung nicht stattfinden soll, ist naclı
meiner Ansicht gerade derwesentliche Inhalt des Begnadigungsaktes, gleich-
viel in welche Worte er gekleidet ist.
1) Auf einer vollkommenen Verkennung des Wesens der Begnadigung beruht
es daher, wenn Binding S. 869 ff. den Verzicht auf das Privatklagerecht, die An-
weisung des Vorgesetzten eines Staatsanwalts, eine begründete Klage nicht zu er-
heben, die statthafte rechtzeitige Rücknahme des Antrags bei Antragsdelikten und
die vorläufige Einstellung des Verfahrens auf Grund des $ 208 der Strafprozeßord-
nung als Fälle der Abolition aufführt, indem er sie seinem „Strafklagerechtsverzicht“
unterordnet. Alle diese Fälle stehen gerade im Gegensatz zur Begnadigung. Vgl.
auch Elsaß S.30 fg.; HeimbergerS.11. Das Reichsgericht hat in der
Entscheidung vom 6. Juni 1896 (Entsch. in Strafsachen Bd. 28, S. 419) sich
der hier entwickelten Begriffsbestimmung in allen Punkten vollkommen angeschlossen,
was Binding, Grundriß S. 235 „bedauerlich“ findet. Ueber eine neuere abwei-
chende Entscheidung des Reichsgerichts siehe unten S. 518. Kaskel, Begnadi-
gung im ehrengerichtlichen Verfahren, Berlin 1911 S. 22 ff, kommt zu einem ähn-
lichen Resultat wie Binding, indem auch er von dem, dem alten Kompositionenrecht
angehörenden, Begriff eines „Strafanspruchs“ und einem Verzicht auf denselben
(Verzeihung) ausgeht.