510 8 93. Das Begnadigungsrecht.
fern das Gesetz einer solchen Delegation nicht entgegensteht ').
Aus dieser formalen Ungebundenheit des Begnadigungsrechts er-
geben sich ferner die beiden materiellen, ihm immanenten Beschrän-
kungen desselben; es kann immer nur zugunsten desjenigen, der
einer Strafverfolgung oder Strafvollstreckung ausgesetzt ist, und niemals
unter Verletzung der Rechte Dritter oder zu ihrem Scha-
den ausgeübt werden.
Selbstverständlich und der Hervorhebung kaum bedürftig ist end-
lich, daß auch das Begnadigungsrecht seine Wurzel in der öffentlichen
Rechtsordnung des Staates hat, daß es also überhaupt nur besteht und
nur in dem Umfange besteht, in welchem es durch das Verfassungs-
recht eines Staates, sei es in der Form einer Gesetzesvorschrift, sei es
in der Form des Gewohnheitsrechts, anerkannt ist. Andererseits er-
streckt der Begnadigungsakt, wenn er dem Verfassungsrecht gemäß
erlassen ist, seine verpflichtende Kraft nicht bloß auf die an der
Strafrechtspflege beteiligten Verwaltungsbehörden (Staatsanwalt-
schaft und Gefängnisverwaltung), sondern auf alle Behörden des Staates,
welche aus irgend einem Grunde in die Lage kommen, ihn zu berück-
sichtigen, insbesondere also auf die Strafgerichte und Polizei-
behörden.
II. Das Verhältnis des Begnadigungsrechts zum Straf-
und Prozeßrecht.
Geht man von dieser Auffassung des Begnadigungsrechts aus, so
ergibt sich, daß dasselbe durch die Umwandlung des Landesstrafrechts
und Landesprozeßrechts in Reichsrecht unmittelbar nicht berührt
worden ist. Denn die Begnadigung ist weder ein Strafausschließungs-
grund im Sinne des materiellen Strafrechts noch ein Bestandteil des
Strafverfahrens im Sinne des Prozeßrechts, sondern eine von der ge-
setzlich normierten Strafrechtspflege verschiedene und aufeinem
selbständigen Grunde beruhende Staatsfunktion. Die Strafge-
setze und Strafprozeßgesetze des Reiches treffen demnach an sich diese
Funktion überhaupt nicht, obgleich natürlich die Möglichkeit besteht,
daß in einem Strafgesetz oder Prozeßgesetz zugleich eine Anordnung
über die Ausübung des Begnadigungsrechts gegeben wird. Inwieweit
dies geschehen ist, wird sogleich erörtert werden. Hier ist zunächst
nur zu betonen, daß, obgleich die Sanktion des Strafgesetzbuchs und
der Strafprozeßordnung von einer höheren Macht als der Staatsgewalt
des Einzelstaates erfolgt ist, das Begnadigungsrecht der Einzelstaaten
hiervon unberührt geblieben ist, weil eben dieses Recht eine durch
die Straf- und Prozeßgesetze nicht gebundene Staats-
funktion ist?).
1) Vgl. Delaquis S. 379 fg.
2) Vgl. hierüber jetzt die trefflichen Ausführungen von Heimberger S.13 ff.