8 93. Das Begnadigungsrecht. 51l
In der Tat hat auch weder in der Praxis noch in der Theorie die
Meinung aufkommen können, daß das Begnadigungsrecht der Einzel-
staaten durch ihre Unterordnung unter die Reichsgewalt und durch
die Straf- und Strafprozeßgesetzgebung beseitigt worden ist. Dagegen
sind zwei Ansichten aufgestellt worden, welche von der hier entwickel-
ten in verschiedenen Richtungen abweichen.
1. Man hat behauptet, daß durch die bundesstaatliche Zusammen-
schließung der Einzelstaaten und durch die Einheit der Reichsjustiz-
gesetzgebung das Begnadigungsrecht der Einzelstaaten eine Erweite-
rung erfahren habe, indem jeder einzelne Staat nunmehr unter-
schiedslos es hinsichtlich aller im ganzen Reichsgebiet begangenen
oder zu verfolgenden Verbrechen ausüben dürfe'). Diese Ansicht ge-
staltet das Begnadigungsrecht zu einem in der Reichsgewalt wurzeln-
den Recht; es würde der Substanz nach ein Recht des Reichs sein,
dessen Ausübung den Landesherren und Senaten der Einzelstaaten
delegiert worden wäre). Denn wie sollte es sonst der Gewalt des ein-
zelnen Staates möglich sein, in den Herrschaftsbereich der anderen
Staaten einzugreifen? Die Reichsgesetzgebung weiß aber von einer sol-
chen Delegation nichts. Sie hat mit vollem Vorbedacht und bewußtem
Wollen Abstand genommen, an das Begnadigungsrecht der deutschen
Landesherren und Senate überhaupt zu rühren, und sie hat deshalb
auch den Rechtsgrund desselben nicht abgeändert. Das Begnadigungs-
recht ist vielmehr geblieben, was es vor der Reichsgründung gewesen
ist, ein eigenes, d. h. von niemand verliehenes und von keinem
anderen Rechte abgeleitetes Recht der Einzelstaaten ?).
Die wichtigste Konsequenz dieses Grundsatzes ist die, daß das Be-
gnadigungsrecht hinsichtlich seiner Voraussetzungen und seines Um-
fanges in jedem Einzelstaat ausschließlich unter den Regeln des
Landesrechts steht.
2. Im Gegensatz hierzu behaupten mehrere Schriftsteller, daß die
Abolition, wo sie landesgesetzlich bestanden hat, durch die Straf-
prozeßordnung für das Gebiet der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit be-
seitigt sei. Einerseits wird dies auf $ 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes
(»Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden«) und
auf die in $ 152 der Strafprozeßordnung sanktionierte Verfolgungs-
1) SoHeinze, Staatsrechtl. und strafrechtliche Erörterungen S. 73 ff. und Straf-
prozessualische Erörterungen S. 120 ff. Vgl. dagegen Löb S. 37 ff.
2) Diese Konstruktion hat Binding, Grundriß des Strafrechts (3. Aufl., 1884),
S. 191 in der Tat aufgestellt, „um den Widerspruch zu heben, daß ein Reichsgesetz
durch eine partikuläre lex spezialis (!) für den einzelnen Fall außer Anwendung ge-
stellt wird“. In seinem Strafrecht S. 865 und in der 5. Aufl. des Grundrisses hat er
diese Ansicht jedoch aufgegeben, nachdem ihre Irrigkeit von Löb S. 18 ff. dargetan
worden war.
3) Das ist auch die in der Theorie und Praxis allgemein herrschende Auffas-
sung. Vgl. HeimbergerS. 28ff.