Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

& 98. Das Begnadigungsrecht. 513 
2. In Strafsachen, in denen das Reichsgericht in erster 
Instanz erkannt hat'). Zugleich ist die Anordnung getroffen, daß in 
solchen Sachen die Vollstreckung von Todesurteilen erst zulässig ist, 
wenn die Entschließung des Kaisers ergangen ist, von dem Begna- 
digungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen ’?). 
3. In Strafsachen, in welchen der Konsul oder das Konsu- 
largerichtin erster Instanz erkannt hat?). 
4. In Strafsachen, in welchen ein Schutzgebietsgerichtin 
erster Instanz erkannt hat‘). 
5. In Sachen der Prisengerichtsbarkeit?). 
6. In Disziplinarsachen der Reichsbeamten‘). 
7. In Strafsachen, in welchen ein elsaß-lothringisches Ge- 
richt in erster Instanz erkannt hat. Für dieses Begnadigungsrecht 
des Kaisers ist das elsaß-lothringische Landesrecht maßgebend, und 
zwar der noch in Kraft stehende Senatsbeschluß vom 25. Dezember 
1852, Art. 1”). Durch das Reichsgesetz vom 4. Juli 1879, $ 1 (vom 
31. Mai 1911, 8 3) ist der Kaiser ermächtigt, »landesherrliche Befugnisse« 
einem Statthalter zu übertragen; hierdurch ist auch die Delegation des 
Begnadigungsrechts an den Statthalter für zulässig erklärt worden, und 
1) Strafprozeßordnung $ 484. Siehe oben S. 409. Aus welchem Rechtsgrunde 
die Zuständigkeit des Reichsgerichts begründet ist, macht keinen Unterschied. Die 
strafprozeßrechtlichen Fragen, die in dieser Hinsicht entstehen können, sind staats- 
rechtlich nicht von Interesse. 
2) Strafprozeßordnung $ 485. 
3) Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit $ 72. 
4) Schutzgebietsgesetz vom 25. Juli 1900, 8 3. 
5) Vgl. Verordnung vom 15. Februar 1889, $ 27 (Reichsgesetzbl. S. 9). 
6) Reichsbeamtengesetz & 118. Vgl. Bd. 1, S. 494. Kaskela.a O. will dies 
auch ausdehnen auf ehrengerichtliche Strafen der Rechtsanwälte beim Reichsgericht 
und auf Patentanwälte, obgleich er diesen den beamtenähnlichen Charakter abspricht. 
7) Dieses Gesetz gewährt dem Staatsoberhaupt das Recht sowohl zur Begna- 
digung im engeren Sinne als zur Amnestie. (L’empereur a le droit de faire gräce 
et d’acorder d’amnistie.) Amnestie umfaßt nach französischem Recht auch die Abo- 
lition rechtshängiger Strafsachen. Vgl. Dufour, Droit administr. I, S. 25 (2. Aufl., 
1854); Arndt, Verordnungsrecht S. 237; Elsaß S. 70, und die von diesen gege- 
benen Nachweisungen; Leoni, Oeffentl. Recht von Elsaß-Lothringen I, S. 50; 
HeimbergerS.6lfg.; Bruck, Verf. von Els.-Loth. S. 80 ff.; Heim, Das Els.- 
Lothr. Verfassungsges. S. 29. Unrichtig ist die Behauptung Bindings S. 866 (Grund- 
riß S. 208), daß der Kaiser auch für Elsaß-Lothringen nur ein Begnadigungsrecht im 
engeren Sinne habe, „da weder die Reichsverfassung noch die Strafprozeßordnung dem 
Kaiser ein Recht der Niederschlagung anhängiger Prozesse einräume“. Das Recht der 
Amnestie hat der Kaiser freilich weder auf Grund der Reichsverfassung noch auf Grund 
der Strafprozeßordnung, sondern auf Grund des Gesetzes vom 9. Juni 1871, $ 3 in 
Verbindung mit dem erwähnten Senatuskonsult. Im Grundriß (5. Aufl.) S. 234 sucht 
Binding seine Theorie damit zu retten, daß er das dem Staatsoberhaupt zustehende 
Abolitionsrecht als ein „höchst persönliches kaiserlichfranzösisches“ bezeichnet; es 
ist aber kein Grund vorhanden, warum dieses dem Staatsoberhaupt zustehende Recht 
an die Person des französ. Kaisers enger geknüpft sein sollte als die anderen Funk- 
tionen, welche die Gesetze ihm zuweisen.
	        
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