514 8 93. Das Begnadigungsrecht.
durch die Erlasse vom 23. Juli 1879 (Reichsgesetzbl. S. 283), vom 28. Sep-
tember 1885 (Reichsgesetzbl. S. 273), vom 5. November 1894 (Reichs-
gesetzbl. S. 529) und vom 23. November 1907 (Reichsgesetzbl. S. 759) ist
eine solche Delegation erfolgt in bezug auf den Erlaß von Geldstrafen,
welche durch richterliches Urteil oder im Verwaltungswege rechtskräftig
erkannt sind, und auf die Gewährung der Rehabilitation.
IV. Das Begnadigungsrecht der Einzelstaaten
besteht in allen anderen als den vorstehend aufgeführten Strafsachen
ohne Unterschied, ob der Tatbestand durch Reichsgesetz oder Landes-
gesetz unter Strafe gestellt ist, und auch dann, wenn durch die Tat
das Interesse des Reiches unmittelbar verletzt worden ist. In den
Zoll- und Steuergesetzen des Reiches hat dies ausdrückliche Anerken-
nung gefunden ').
Im Verhältnis zum Reich ist das Begnadigungsrecht der
Einzelstaaten in allen Fällen ein ausschließliches; ein kon-
kurrierendes Begnadigungsrecht des Kaisers besteht nicht ’?).
Um das Verhältnis der Einzelstaaten zueinander
zu bestimmen, muß man von der juristischen Natur des Begnadigungs-
aktes als eines staatlichen Befehles ausgehen. Da ein Befehl seine
Wirksamkeit nur auf diejenigen erstreckt, die ihm zu gehorchen ver-
pflichtet sind, so ergibt sich als prinzipielle Regel der Satz, daß ein
Begnadigungsakt eines Einzelstaates nur innerhalb desselben wirkt
und seine Kraft auf die diesem Staate angehörenden Behörden be-
schränkt. Diese Regel kann aber nur im souveränen Einheitsstaat,
der in betreff der Strafrechtspflege völlig selbständig und unabhängig
ist, konsequent durchgeführt werden. Die bundesstaatliche Zusammen-
fassung der deutschen Staaten behufs Ausübung der Strafrechtspflege,
wie sie durch das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozeßord-
nung erfolgt ist, ergreift auch die Wirkungen des Begnadigungsrechts.
1. Die Begnadigung im engeren Sinne entzieht einem
Strafurteil (ganz oder teilweise) die Vollstreckbarkeit. Hieraus ergibt
sich mit Notwendigkeit der Satz, daß die staatliche Rechtskraft des
Urteils (vgl. oben S. 399 fg.) und die staatliche Wirksamkeit des Be-
gnadigungsaktes sich decken müssen, wenn nicht zwischen beiden
staatlichen Funktionen unlösbare Konflikte entstehen sollen. Da die
staatliche Rechtskraft (Vollstreckbarkeit) der Strafurteile eines deut-
schen Gerichtes sich über das ganze Reichsgebiet erstreckt, so kann
auch das Begnadigungsrecht desjenigen Staates, dessen Gericht das
Urteil gefällt hat, nur dann eine gesicherte Wirksamkeit haben, wenn
1) Vgl. Arndt, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 5, S. 323 ff.
2) Als ein Uebelstand ist namentlich anzuerkennen, daß bei gerichtlichen Ver-
urteilungen wegen Beleidigungen des Kaisers und von Reichsbeamten wegen
Amtsdelikten der Kaiser das Begnadigungsrecht nicht hat, während es ihm doch
in Disziplinarsachen der Reichsbeamten zusteht.