8 98. Das Begnadigungsrecht. 515
es ebenfalls im ganzen Reichsgebiet rechtliche Kraft hat und nicht
in dem Gebiet eines anderen Staates durch Strafvollstreckung illusorisch
gemacht werden kann. Andererseits würde die Strafrechtspflege jedes
einzelnen Staates ihrer Kraft und Bedeutung beraubt und die einheit-
liche Organisation der Gerichtsbarkeit zerstört werden, wenn die Straf-
urteile eines Staates durch Begnadigungsakte eines anderen Staates, in
dessen Gebiet der Verurteilte (oder sein Vermögen) sich befindet, un-
vollstreckbar gemacht werden könnten. Aus diesem logischen Erfor-
dernis der Kongruenz zwischen der Vollstreckbarkeit der Urteile
und der Wirksamkeit der Begnadigung, welche ihnen die Vollstreck-
barkeit entzieht, ergeben sich folgende zwei Sätze:
aAIn jeder Strafsache kann immer nurein deut-
scher Staat begnadigungsberechtigt sein; so wenig es
in irgendeiner Sache ein konkurrierendes Begnadigungsrecht des
Reichs und eines Einzelstaates gibt, ebensowenig gibt es in irgend
einem Falle auf dem Gebiet der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit ein
konkurrierendes Begnadigungsrecht mehrerer Einzelstaaten.
b) Der Begnadigungsakt des zuständigen Staates
erstrecktseine Wirksamkeit über das ganze Reichs-
gebiet.
Die Frage, welcher Staat im einzelnen Falle zur Ausübung des
Begnadigungsrechts zuständig ist, hat zwar in der Reichsgesetzgebung
keine ausdrückliche Entscheidung gefunden; nach der Gerichtsverfas-
sung und denı Rechtsmittelsystem kann diese Frage aber nicht anders
beantwortet werden, als daß das Begnadigungsrecht demjenigen Staate
zusteht, dessen Gericht in erster Instanz in der Sache das Urteil
gesprochen hat. Denn die Gerichte der höheren Instanzen, auch
wenn sie nicht demselben Staate angehören, dessen Gericht in erster
Instanz das Urteil gefällt hat, stellen die Ausübung der Strafgewalt
(das Strafrecht) desjenigen Staates fest, vor dessen Gericht erster In-
stanz die Strafverfolgung erhoben und durchgeführt worden ist. Auch
ist in der Vorschrift des $ 484 der Strafprozeßordnung eine Anwen-
dung dieses Prinzips enthalten, aus welcher man auf die reichsge-
setzliche Anerkennung des letzteren einen Rückschluß machen kann.
In der Praxis wird dieser Grundsatz ohne Bedenken befolgt, und in
der Theorie bildet er die weitaus überwiegende Meinung‘). In den
Verträgen der deutschen Staaten über die Errichtung gemeinsamer
Gerichte erster Instanz ist er durch die Bestimmung ergänzt worden,
daß den beteiligten Landesherren das Begnadigungsrecht »in den aus
ihren Gebieten erwachsenden« Strafsachen verbleibt ?).
1) Meves S. 494; Löwe (9. Aufl.) S. 26, Anm. 12; Löb S. 33 ff; Binding
S. 868 (jedoch mit falscher Begründung); Elsaß S. 119 ff.; Merkel S.250; Seuf-
fert S. 152.
2) Preuß. Vertrag mit Oldenburg Art.18, mit Schwarzburg-Sondershausen Art. 19,
mit Lippe Art. 14 (Preuß. Gesetzsammlung 1879, S. 169, 177, 222. Löwe S. 26;
Seufferta.a. O.; Delaquis S. 377 fg.