Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

8 93. Das Begnadigungsrecht. 517 
a) Die Begnadigung wird erteilt, bevor an irgendeinem der an sich 
zuständigen Gerichte die Untersuchung eröffnet worden ist, also in 
einem Zeitpunkt, in welchem noch eine konkurrierende Kompetenz 
aller dieser Gerichte besteht. Alsdann kann die Amnestie eines Landes- 
herrn (oder Senats) den Täter nur vor der Strafverfolgung vor den 
Gerichten dieses Staates schützen, denn nur seinen eigenen 
Behörden kann der Landesherr befehlen oder verbieten). 
b) Die Niederschlagung wird verfügt, nachdem das Gericht eines 
anderen Staates bereits gemäß $ 12 der Strafprozeßordnung das aus- 
schließlich zuständige geworden ist. Alsdann ist sie völlig wirkungslos 
dem auswärtigen Gericht gegenüber, weil es außerhalb der Machtsphäre 
des amnestierenden Landesherrn ist; dem inländischen Gerichte gegen- 
über, weil es ohnehin keine Zuständigkeit mehr hatte. 
c) Die Niederschlagung erfolgt — sofern dies nach dem Landes- 
staatsrecht statthaft ist —, nachdem ein inländisches Gericht prae- 
veniendo durch Eröffnung der Untersuchung das ausschließlich zu- 
ständige geworden ist. Alsdann wirkt sie für das ganze Reichsgebiet. 
Denn das inländische Gericht darf das Strafverfahren nicht fortsetzen, 
weil ihm dies durch den Gnadenerlaß rechtswirksamı verboten ist; alle 
anderen Gerichte im Gebiete des Reichs aber haben infolge der Prä- 
vention kraft Reichsgesetzes ihre Zuständigkeit verloren, und es fehlt 
an einer Rechtsvorschrift, daß die letztere infolge der in einem Staate 
erteilten Abolition in anderen Staaten wieder auflebe?). Wenn vor 
  
insbesondere einen Verzicht auf den staatlichen „Straffeststellungsanspruch“ und 
nimmt einen solchen überall da an, wo nach den gesetzlichen Vorschriften die Zu- 
ständigkeit einer Behörde, insbesondere eines Gerichts, begründet ist. Hiernach 
kann der Staat A den Strafanspruch, dagegen der Staat B den Straffeststellungsan- 
spruch haben, und es können mehrere Staaten den Straffeststellungsanspruch in der- 
selben Strafsache haben, falls nach den gesetzlichen Zuständigkeitsnormen die Ge- 
richte verschiedener Staaten zuständig sind. Da nun jeder Staat nur auf die ihm 
zustehenden Ansprüche verzichten kann, so ergeben sich hieraus hinsichtlich der 
Wirkung der Abolition schwierige Komplikationen, auf deren Lösung ein großer 
Scharfsinn verwendet wird. Wenn man das in der Staatsgewalt enthaltene Recht zu 
strafen nicht als Herrscher- oder Hoheitsrecht, sondern als „Anspruch“ des Staates 
auffaßt, so muß man allerdings neben dem „Strafanspruch“ noch den „Straffeststel- 
lungsanspruch“ und den „Strafvollstreckungsanspruch“ — vielleicht auch den Durch- 
suchungsanspruch, Verhaftungsanspruch usw. — zu Hilfe nehmen, und es ergeben 
sich dann ebenso viele „Anspruchsverzichte“ aller Staaten, deren Gerichte in der 
konkreten Sache zuständig sind. Diese Anspruchstheorie ist gegenwärtig allerdings 
die herrschende, und gegen sie anzukämpfen, verspricht wenig Aussicht auf Erfolg; 
ich glaube aber, daß sie mit dem staatsrechtlichen Wesen der Strafgewalt und des 
Strafprozesses im Widerspruch steht. Vgl. oben S. 378 ff. 
1) H.Meyer S.395 behauptet, daß die in dem einen deutschen Staate erfolgte 
Niederschlagung, vor oder nach Einleitung des Verfahrens, das Verfahren in einem 
jeden anderen deutschen Staate ausschließt, weil die Begnadigung in allen ihren 
Formen der Aburteilung gleichsteht. So wie dieser Grund falsch ist, ist 
auch die daraus hergeleitete Folgerung unrichtig. 
2) Vgl. Löb S. 45 ff. Unrichtig Binding S. 869, $ 167 a. E., und Löwe 
S. 27, Note 13a. Der letztere denkt an die Möglichkeit, daß nach erfolgter Nieder-
	        
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