8 101. Das stehende Heer. 97
unter Einschiebung einer kurzen Pauschquantumperiode und dem Vor-
behalte einer späteren Vereinbarung über die dauernde Präsenzstärke !),
Die Berechnung der von den Einzelstaaten an die Reichskasse
zu zahlenden Beiträge erfolgte nach der im Art. 60 interimistisch fest-
gestellten Friedenspräsenzstärke, bis sie durch ein Reichsgesetz abge-
ändert wurde; so oft ein solcher Fall eintritt, wird die in dem Reichs-
gesetz — sei es nun wiederum interimistisch oder sei es für immer,
d. h. für unbestimmte Zeit — festgesetzte Friedenspräsenzstärke der
Berechnung zugrunde gelegt ’?).
8. Wenn nach Ablauf der Periode, für welche die Präsenzstärke ge-
setzlich festgestellt worden ist, ein neues Gesetz über dieselbe nicht zu-
stande kommt, würde der letzte Absatz des Art. 62, wonach bei der
Feststellung des Militärausgabe-Etats die auf Grundlage dieser Verfassung
gesetzlichfeststehende Organisation des Reichsheeres zugrunde
gelegt werden soll, unanwendbar werden. Denn wenn die Friedens-
präsenzstärke gesetzlich nicht bestimmt ist, fehlt es an einer gesetz-
lichen Grundlage für die Veranschlagung der Militärausgaben. Gelingt
es nicht, zwischen dem Reichstage und der Reichsregierung hierüber
eine Einigung zu erzielen und ein Etatsgesetz zu vereinbaren, so wird
die Vorschrift in Art. 62, Abs. 3, daß die Verausgabung der von den
Einzelstaaten gezahlten Beiträge durch das Etatsgesetz festgestellt werden
soll, unausführbar; alle für das gesamte Reichsheer und dessen Ein-
richtungen zu machenden Ausgaben würden alsdann auf Verantwort-
lichkeit des Reichskanzlers erfolgen und staatsrechtlich wie außer-
etatsmäßige Ausgaben zu beurteilen sein’). Dagegen ist die An-
sicht, daß in einem solchen Falle das Reichsheer ipso jure verschwinden
1) Die richtige Ansicht ist vollkommen zutreffend und wohlbegründet dargelegt
worden von Thudichum, Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes S. 416 ff.
und in v. Holtzendorffs Jahrbuch I, S. 41. Vgl. ferner meine Darstellung des Reichs-
finanzrechts in Hirths Annalen 1873, S. 551. Schulze, Deutsches Staatsrecht II,
S. 280; Preuß S. 57ff., welcher darauf hinweist, daß auch Minister Delbrück
(Stenogr. Berichte, I. Session 1874, S. 787, 788) sich für diese Ansicht erklärt hat.
v.Savigny S.249fg.; Arndt S. 5l5öfg.; Dambitsch S.59; Sartorius S. 93 ff.
2) Die Behauptung Seydels a. a. O., daß Art. 62, Abs. 2 in Wegfall gekommen
sei durch das Gesetz vom 9. Dezember 1871 über die Friedenspräsenzstärke für 1872
bis 1874, beruht m. E. auf einem Interpretationsfehler. Der in Rede stehende Abs. 2
des Art. 62 besteht aus zwei Sätzen; der erste sanktioniert die dauernde Pflicht
der Einzelstaaten zur Zahlung der Militärbeiträge, der zweite normiert die Berech-
nungsweise; die letztere ändert sich, wenn die Friedenspräsenzstärke gesetzlich
abgeändert wird, die Pflicht selbst nicht. Vgl. auch Fricker 2.2.0. S.176; Preuß
a.2a. O.; v. Savigny S. 252, der aber Art. 62, Abs. 2 für unanwendbar hält, weil
es für die Berechnung an einer Grundlage fehle; Sartoriusa.a.0.
3) Vgl. meine Darstellung des Finanzrechts in Hirths Annalen 1873, S. 549 ff.
und unten die Lehre vom Budgetrecht $ 131. Uebrigens bemerkt Seydel S. 345
mit Recht, daß „Art. 62, Abs. 4 nur einen staatsrechtlich selbstverständlichen Satz
des Budgetrechts auch für den Fall des Art. 62 wiedergibt, und zwar deshalb, weil
das, was in der Tat staatsrechtlich selbstverständlich ist, für viele Politiker des
Reichstags damals nicht selbstverständlich war und vielleicht auch jetzt noch nicht ist“.