Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

8 117. Allgemeine Charakteristik und geschichtliche Entwicklung. 379 
Anders gestaltete sich das Verhältnis bereits in den Entwürfen der 
Verfassung, wie es aus den Beratungen der Bevollmächtigten der 
norddeutschen Staaten hervorgegangen ist und dem verfassungsbera- 
tenden Reichstage vorgelegt wurde. Im Art. 4, Ziff. 2 wurde die Zu- 
ständigkeit der Bundesgesetzgebung erstreckt auf »die für Bundeszwecke 
zu verwendenden indirekten Steuern«!). Es wurde ferner ein 
Abschnitt über die Bundesfinanzen eingefügt, in dessen Art. 66 als 
Mittel zur Bestreitung aller gemeinschaftlichen Ausgaben aufgeführt 
werden: die Zölle, die gemeinsamen Steuern, die Post- und Tele- 
graphenüberschüsse und zur Ergänzung die Beiträge der einzelnen 
Bundesstaaten. Durch Beschluß des Reichstags wurde aber im Art. 4, 
Ziff. 2 das Wort »indirektex gestrichen und in Uebereinstimmung da- 
mit lautet auch in der Reichsverfassung Art. 4, Ziff. 2: »die Zoll- und 
Handelsgesetzgebung und die für die Zwecke des Reichs zu verwen- 
denden Steuern«. Art. 70 der Verfassung aber erhielt die Fassung: 
»Zur Bestreitung aller gemeinschaftlichen Ausgaben dienen zunächst 
die etwaigen Ueberschüsse der Vorjahre sowie die aus den Zöllen, den 
gemeinschaftlichen Verbrauchssteuern und aus dem Post- und Tele- 
graphenwesen fließenden gemeinschaftlichen Einnahmen. Insoweit 
dieselben durch diese Einnahmen nicht gedeckt werden, sind sie, So- 
lange Reichssteuernnichteingeführtsind, durch Bei- 
träge der einzelnen Bundesstaaten ... aufzubringen.« Die Verfassung 
nahm also eine reinliche und vollständige Trennung der Finanzwirt- 
schaft des Reichs und der Finanzwirtschaft der Einzelstaaten in Aus- 
sicht. Im Norddeutschen Bunde gab es nur Einnahmen ?) und Aus- 
gaben, an denen alle Staaten gleichmäßig Anteil hatten und zur Zah- 
lung von Matrikularbeiträgen sollten die Staaten nur provisorisch ver- 
pflichtet sein, »solange Reichssteuern nicht eingeführt sind«. 
Bei der Gründung des Reiches ist dieses klare und einfache Sy- 
stem zwar durch die Sonderrechte der süddeutschen Staaten getrübt 
worden und es sind Komplexe von Einnahmen und Ausgaben gebildet 
worden, an denen nicht sämtliche Staaten gleichmäßig beteiligt sind ; 
im Prinzip blieb aber die Trennung der Reichsfinanzwirtschaft von 
der Finanzwirtschaft der Einzelstaaten aufrecht erhalten. Dieses Sy- 
stem konnte aber nur durchgeführt werden, wenn die Einnahmen und 
Ausgaben des Reichs im Gleichgewicht blieben und mit der Erhöhung 
der Ausgaben die Erhöhung der eigenen Einnahmen des Reichs glei- 
chen Schritt hielt, d. h. dem Bedürfnis des Reichs entsprechend neue 
Reichssteuern eingeführt wurden. Dies war aber nach der schnellen 
Aufbrauchung der französischen Kriegskostenentschädigung nicht der 
Fall; die finanziellen Bedürfnisse des Reichs wuchsen in einem die 
1) Man hatte dabei aber ausschließlich die im Art. 32 (jetzt 35) aufgeführten 
Abgaben im Auge. Siehe meine Schrift „Direkte Reichssteuern“ Berlin 1908, der 
die obenstehenden Erörterungen entnommen sind, S. 10. 
2) Nach Ablauf der Uebergangszeit für die Verteilung der Postüberschüsse.
	        
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