Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

S 97. Der Oberbefehl über die bewaffnete Macht des Reiches. 37 
schalls S. 217 ff., der daraufhin die Verordnungsblätter untersucht 
hat, widerlegt. Es gibt — wenigstens in Preußen — keine konstante 
Uebung, sondern es herrscht die vollkommenste Regellosigkeit. Es 
besteht auch keine Uebereinstimmung zwischen den Erlassen für 
das Heer und für die Marine und zwischen den preußischen und den 
anderen Kontingenten. Nach dem Inhalt der Anordnung ist die 
Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit der Kontrasignatur aber über- 
haupt nicht zu beurteilen, sondern nach dem Dienstverhältnis der 
Befehlsempfänger'). 
Die Gehorsamspflicht im Staat ist nämlich nicht in allen Fällen 
die gleiche; sie beruht auf verschiedenen Grundlagen. Im allgemei- 
nen ist jeder Staatsbürger verpflichtet zum gesetzlichen Ge- 
horsam, d. h. zur Befolgung der Gesetze und der auf Grund der 
Gesetze ergangenen, rechtsgültigen Anordnungen. Dazu kommt eine 
potenzierte Gehorsamspflicht der Beamten; sie haben nicht nur die 
allgemeine Untertanenpflicht, sondern auch die besondere Dienst- 
pflicht, welche auf dem Dienstverhältnis beruht und sie zum Ge- 
horsam gegen Dienstbefehle ihrer Vorgesetzten verpflichtet. Noch 
mehr potenziert ist aber die militärische Gehorsamspflicht, und zwar 
derjenigen Militärpersonen, welche im aktiven Dienste sind. Während 
der Untertan nur den gesetzlichen Vorschriften zu folgen hat, der Be- 
amte außerdem den Vorschriften, die seinen speziellen Dienst betref- 
fen und von seinem Vorgesetzten innerhalb seiner Kompetenz ihm 
erteilt werden, ist der im aktiven Dienst befindliche Soldat oder Offi- 
zier verpflichtet, den Befehlen jedes Vorgesetzten Folge zu leisten, 
nicht bloß dem gewöhnlich ihm vorgesetzten, sondern jedem, der einen 
höheren militärischen Rang hat; er hat niemals zu prüfen, ob der Vor- 
gesetzte nach der Stelle, welche er in der Armee hat, zur Erteilung des Be- 
fehls zuständig ist. Ebensowenig hat der Soldat oder Offizier zu prü- 
fen, ob die ihm anbefohlene Handlung zu seinen gewöhnlichen Dienst- 
verrichtungen gehört; nur Befehle, Verbrechen oder Vergehen zu ver- 
üben, darf er nicht ausführen. Endlich haben Personen des Soldaten- 
standes im aktiven Dienst nicht zu prüfen, ob die ihnen erteilten 
Befehle Gültigkeit und Rechtswirksamkeit haben oder nicht. Man 
nennt dies bisweilen den »blinden« Gehorsam, zu dem die Personen 
des Soldatenstandes im aktiven Dienst verpflichtet sind; das heißt 
nicht, daß sie ohne Umsicht und ohne eigene geistige Tätigkeit die 
Befehle ausführen sollen, wohl aber, daß ihre Rechtmäßigkeit und 
1) Dies ist ausführlich und überzeugend dargetan von v. Marschall S. 376 ff., 
388 ff., 400 ff. Uebereinstimmend schon Guderian im Arch. des öffentl. R. Bd. 19 
S. 485 ff. ; vgl. ferner Apel in Fleischmanns Wörterbuch I S. 187 und meine Erörte- 
rung unten $ 106, IV, 1. Ueber die Gehorsamspflicht der Untergebenen gegen for- 
mell oder materiell rechtswidrige und daher rechtlich unverbindliche Befehle, ins- 
besondere über die Straflosigkeit des Untergebenen, welcher sie zur Ausführung 
bringt, siehe die scharfsinnigen Erörterungen von Max Ernst Mayer in der Fest- 
schrift der Straßburger Fakultät zu meinem Doktorjubiläum 1908, S. 121 ff. u. 151 ff.
	        
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