Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

48 8 97. Der Oberbefehl über die bewaffnete Macht des Reiches. 
e. Es können ferner die Vorschriften der preußischen Verfassung 
über die Gewährleistung der persönlichen Freiheit (Art. 5), über die 
Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 6), über die ‚Freiheit der Presse 
(Art. 27. 28), über das Versammlungs- und Vereinsrecht (Art. 29. 30) 
und über das Einschreiten der bewaffneten Macht (Art. 36) suspen- 
diert werden. Wenn die Suspension dieser Artikel oder einzelner der- 
selben angeordnet wird, so gilt über die Bekanntmachung dieselbe 
Vorschrift wie von der Einrichtung von Kriegsgerichten ($ 5, Abs. 1). 
An die Stelle der Art. 5 und 6 der preußischen Verfassung sind aber 
jetzt, und zwar im ganzen Bundesgebiet, die Bestimmungen im 
I. Buch 8. und 9. Abschnitt der Strafprozeßordnung, an die Stelle der 
Art. 27 und 28 der preußischen Verfassung die Bestimmungen des 
Reichsgesetzes über die Presse vom 7. Mai 1874 (Reichsgesetzbl. S. 65) 
und an die Stelle der Art. 29 und 30 des Reichsvereinsgesetzes vom 
19. April 1908 getreten !). Die Erklärung der Suspension wird dem- 
nach eintretenden Falles auf diese Reichsgesetze zu richten sein. 
2. Die Frage, ob auch den Landesherren die Befugnis zusteht, für 
ihre Gebiete den Kriegszustand — wenigstens in Friedenszeiten — zu 
verhängen, ist zu verneinen, und zwar aus zwei Gründen‘). Die Er- 
klärung des Kriegszustandes ist ein Ausfluß des kaiserlichen Militär- 
oberbefehls; die Einzelstaaten sind nicht befugt, in denselben einzu- 
greifen, insbesondere den Militärbefehlshabern die gesamte 
Oberleitung derZivilverwaltung und die Verantwortlichkeit 
für dieselbe zu übertragen und die Militärgerichtsverfassung 
1) Das Preßgesetz $ 30, Abs. 1 erhält für die Zeiten des erklärten Kriegs-(Be- 
lagerungs-)Zustandes die in bezug auf die Presse bestehenden besonderen gesetz- 
lichen Bestimmungen bis auf weiteres in Kraft. Das Vereinsgesetz $ 24 erklärt, daß 
die Vorschriften des Landesrechts in bezug auf Vereine und Versammlungen für die 
Zeiten ... des erklärten Kriegs(-Belagerungs-)Zustandes unberührt bleiben. 
2) Vor dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Werkes war die entgegen- 
gesetzte Meinung die herrschende; vgl. Thudichum S. 294; v. Mohl S. 9 fg; 
v. Rönnel, S.37; Seydel, Kommentar (1. Aufl.) S. 248; Meyer, Staatsrecht 
(1. Aufl.) S. 494. Jetzt halten nur noch Meyer (Hirths Annalen 1880, S. 347 fg., 
Verwaltungsrecht 8 68) und Leoni, Oeffentl. Recht von Elsaß-Lothringen S. 50 
diese Ansicht fest; dagegen haben sich Löning, Zorn, Schulze, Seydel, 
Bornhak, Brockhaus S.73 fg. u.a. der hier entwickelten Ansicht angeschlossen; 
ebenso mit ausführlicher Begründung Hänel, Staatsrecht I, S.440 fg.; Haldy S. 26fg.; 
Dambitsch S. 616. In neuester Zeit haben einzelne Schriftsteller die Möglichkeit 
eines landesrechtlichen Belagerungszustandes verteidigt, insbesondere Fleischmann 
a. a. OÖ. und die Dissertationen von Bücher (Leipg. 1909), Sido (Freibg. 1912) und 
v. Nikolai 1913. Die Gründe, auf welche diese Meinung gestützt wird, sind bereits, 
soweit sie überhaupt von Gewicht sind, in der bisherigen Literatur widerlegt wor- 
den. Sehr sonderbar ist in den beiden zuletzt erwähnten Dissertationen die Erwä- 
gung, daß der Großherzog von Baden den Belagerungszustand durch die Gendarmerie 
aufrecht erhalten könne. Hält man es — von anderen Gründen abgesehen — für 
möglich, daß in dem in Kriegszustand versetzten Distrikt alle Bezirks- und Orts- 
behörden dem Gendarmerieoffizier untergeordnet werden? Vgl. Badisches Gesetz 
über den Kriegszustand vom 29. Januar 1851 $ 3.
	        
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