526 $ 128. Bedeutung und Feststellung des Haushaltsetatsgesetzes.
1. Die Wirtschaftsperiode des Reiches ist verfassungsmäßig auf
ein Jahr bestimmt worden; es muß daher für jedes Jahr ein be-
sonderes Etatsgesetz festgestellt werden und dasselbe muß die Ein-
nahmen und Ausgaben des ganzen Jahres umfassen. Die Wirtschafts-
periode des Reiches fiel anfänglich mit dem Kalenderjahr zusammen;
durch das Reichsgesetz vom 29. Februar 1876’) wurde jedoch fest-
gesetzt, daß das Etatsjahr für den Reichshaushalt vom 1. April 1877
ab mit dem 1. April beginnt und mit dem 31. März schließt 2).
2. Im Zusammenhange damit steht der Satz des Art. 71, Abs. 1,
daß die gemeinschaftlichen Ausgaben in der Regel für ein Jahr
bewilligt werden. Aber auch, wenn von der daselbst gestatteten Aus-
nahme, daß Ausgaben in besonderen Fällen auch für eine längere
Dauer bewilligt werden können, Gebrauch gemacht wird, sind in den
Etat jedes Jahres diejenigen Beträge einzustellen, welche in dem be-
treffenden Jahre zur Verwendung kommen sollen. Dies gilt nament-
lich von dem Falle, daß für größere Bauten oder andere Anlagen
Gesamtsummen bewilligt werden, welche nach und nach im Laufe
mehrerer Jahre aufgebraucht werden °). Denn nach Art. 69 der Reichs-
verfassung müssen alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Jahr
veranschlagt werden, so daß eine vollständige Uebersicht des ge-
samten Finanzplanes gewonnen wird.
3. Als Regel stellt der Art. 69 die Vorschrift auf, daß alle Ein-
nahmen und Ausgaben des Reiches in einem einheitlichen Etat
zusammengestellt werden. Die Verfassung spricht immer nur von dem
Reichshaushaltsetat, der durch ein Gesetz festgestellt wird. Es
sollen also nicht die Etats der einzelnen Verwaltungszweige getrennt
festgestellt werden. Indes ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen,
daß, nachdem der Etat bereits festgestellt ist und bevor das Etatsjahr,
1) Reichsgesetzbl. 1876, S. 121.
2) Infolge dieses Gesetzes mußte ein besonderer Etat für das Vierteljahr vom
1. Januar bis 31. März 1877 festgestellt werden. Reichsgesetz vom 23. Dezember 1876
(Reichsgesetzbl. S. 239). Ein solcher Quartalsetat steht mit der unzweideutigen und
klaren Anordnung des Art. 69 im Widerspruch. Wäre die Theorie richtig, daß Ge-
setze, welche einer Verfassungsbestimmung widersprechen, trotzdem sie formell
ordnungsmäßig zustande gekommen sind, ungültig seien, so müßte man konse-
quenterweise auch diesesEtatsgesetz für ungültig erklären, weil nicht
vorher Art. 69 der Reichsverfassung eine entsprechende Veränderung vder Ergänzung
erfahren habe. An solcken Konsequenzen erweist sich die Unrichtigkeit der er-
wähnten Theorie. Vgl. Bd. 2, S. 39 ff.
3) Die Reichsgesetzgebung hat diesen Grundsatz in einer erheblichen Zahl vor
Fällen und ganz konsequent zur Geltung gebracht. Anwendungsfälle sind: Reichs-
gesetz vom 8. Juli 1872, Art. II (Reichsgesetzbl. S. 290). Reichsgesetz vom 23. Mai
1873 (Invalidenfonds) $& 6, 7 (Reichsgesetzbl. S. 119). Reichsgesetz vom 30. Mai 1873
(Festungsbaufonds) Art. II (Reichsgesetzbl. S. 123). Reichsgesetz vom 12. Juni 1873,
Art. DT a. E. (Reichsgesetzbl. S. 128). Reichsgesetz vom 14. Februar 1875, $ 2, Abs. 2
(Reichsgesetzbl. S. 62). Reichsgesetz vom 17. Februar 1876, $ 3 (Reichsgesetzbl.
S. 21) usw. Neuerdings z. B. das Flottengesetz vom 27. Juni 1912, 8 5 (Reichsgesetzbl.
S. 487).