8 129. Die Wirkungen des Etatsgesetzes. 539
die Genehmigung oder Decharge erteilt, d. h. ohne Anwendung
der Gesetzesform!').
Auch bei-dem Etatsgesetz aber läßt sich der Beweis erbringen,
daß diese Wirkung nicht auf der spezifischen Gesetzesform, son-
dern auf der Zustimmung des Bundesrats und Reichstags als sol-
cher beruht. Denn das Etatsgesetz unterscheidet sich von allen an-
deren Gesetzen dadurch, daß sich bei ihm die Gesetzesform nicht voll-
ständig mit der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften deckt.
In die Ausfertigung des Etatsgesetzes und demgemäß in die Verkün-
digung werden nämlich nur die Kapitel und deren Summen unter An-
gabe der Anzahl der einzelnen Titel aufgenommen; s. S. 530 Note 2,
die Beschlußfassung des Bundesrats und des Reichstags erstreckt
sich dagegen auf die Titel und die in denselben enthaltenen
Positionen, sowie auf die denselben beigefügten Bemerkungen.
Würde nun die Wirkung des Etatsgesetzes auf der Gesetzesform als
solcher beruhen, so müßte sie sich auf dasjenige beschränken, was
wirklich Gesetzesform erlangt hat, also auf die Kapitelüberschriften
und Kapitelsummen. Dies ist aber nicht der Fall; den Maßstab der
Verantwortlichkeit bilden vielmehr alle Positionen, welche zum Gegen-
stande der Beschlußfassung des Bundesrats oder Reichstags gemacht
worden sind, obgleich hinsichtlich derselben die Gesetzesform
fehlt).
1) Daß für einen Etat, der die angegebene Wirkung in vollem Umfange hat,
die Gesetzesform durchaus nicht wesentlich ist, beweisen die Etats der Gemeinden,
Kommunalverbände, Anstalten usw. Diese Etats sind dem Staats- oder Reichsetat
wesensgleich und dienen demselben Zweck. Das Wesen des Etats wird daher von
denjenigen Schriftstellern, welche dasselbe in der Gesetzesform finden, verkannt.
2) Dieser in der früheren preußischen Praxis häufig verkannte Satz ist näher
ausgeführt und begründet worden in meinem Budgetrecht S. 59 ff. In der Praxis
des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches ist der richtige Begriff der
Etatsüberschreitungen anerkannt worden; zuerst bereits in einem Schreiben des
Bundeskanzlers vom 24. September 1867, sodann in einer Resolution, welche der
Norddeutsche Reichstag unter Zustimmung des Präsidenten des Bundeskanzleramts selbst
in der Sitzung vom 28. März 1870 (Stenogr. Berichte S. 530) beschlossen hat. Dieser
richtige Begriff sollte seine gesetzliche Sanktion erhalten in den (nicht zustande ge-
kommenen) Gesetzen über den Rechnungshof und über die Verwaltung der Einnahmen
und Ausgaben. Die daselbst in Aussicht genommene Bestimmung ist übereinstimmend
mit einem Satze des $ 19 des preußischen Gesetzes vom 27. März 1872 über die
Oberrechnungskammer, welches tatsächlich auch für das Reich in Geltung steht
(siehe $ 131). Sie lautet: „Als Etatsüberschreitungen werden alle Mehrausgaben an-
gesehen, welche gegen die einzelnen Kapitel des gesetzlich festgestellten Reichs-
haushaltsetats oder gegen die vom Reichstage genehmigten Titel der Spezialetats
stattgefunden haben, sofern nicht einzelne Titel in den Etats als unter sich über-
tragungsfähig ausdrücklich bezeichnet sind, und bei solchen die Mehrausgabe durch
Minderausgabe bei anderen ausgeglichen wird. — Unter dem Titel eines Spezialetats
ist im Sinne dieses Gesetzes jede Position zu verstehen, welche einer
selbständigen Beschlußfassung des Reichstages unterlegen
hat und als Gegenstand einer solchen im Etat erkennbar ge-
macht worden ist.“ Gesetzentwurf über die Verwaltung der Einnahmen und
Ausgaben von 1877, 8 9.