2 $ 95. Allgemeine Prinzipien.
tisch bedeutungslos ohne Zusammenfassung und einheitliche Organi-
sation der im Reiche vorhandenen Streitkräfte; die Willensakte des
Reiches sowohl im internationalen Verkehr mit auswärtigen Mächten
als auch in Ausübung der staatlichen Funktionen im Innern würden
der Energie und Würde entbehren, wenn das Reich nicht imstande
wäre, denselben durch Entfaltung physischer Kraft Nachdruck zu geben.
Alle Schriftsteller über das Wesen und die Einrichtungen des Bundes-
staates waren von jeher darüber einig, daß so wie die völkerrecht-
liche Vertretung und die Wahrnehmung der internationalen Interessen
so auch die Ordnung des Heerwesens und der Oberbefehl über die
bewaffnete Macht zur Kompetenz der Bundesgewalt gehöre. Auch die
Reichsverfassung erkennt dieses Prinzip an, welches durch die Natur
der Sache von selbst geboten ist, und sie sichert nach allen Richtungen
die tatsächliche Durchführung desselben. Die staatsrechtliche Gestal-
tung aber, welche diese Durchführung gefunden hat, die juristische
Form, in welche die Rechte des Reiches auf dem Gebiete des Heer-
wesens gebracht worden sind, gehört zu den eigentümlichsten und son-
derbarsten Gebilden des öffentlichen Rechts.
Die Eigentümlichkeiten des deutschen Militärrechts beruhen nicht
auf rationellen Gründen, auf allgemeinen Rechtsprinzipien oder auf
sachlichen (technischen) Erwägungen, sondern lediglich auf histo-
rischen Ursachen, auf der Art und Weise, wie die Gründung des
Reiches sich vollzogen hat, und auf dem Zustande des Heerwesens,
den das Reich bei seiner Entstehung als tatsächlich gegeben vorge-
funden hat. Denn das, was der Militärverfassung des Deutschen Reiches
einen so eigenartigen, ja man kann fast sagen absonderlichen Charakter
verleiht, ist nicht die konsequente Durchführung eines eigentümlichen
staatsrechtlichen Grundsatzes, sondern der Mangel eines einheitlichen
Prinzips, indem sowohl für die verschiedenen Teile der bewaffneten
Macht als für die verschiedenen Gebiete, aus denen sich das Bundes-
gebiet zusammensetzt, ganz verschiedene Rechtssätze bestehen. Ins-
besondere kommt für die Marine ein anderes Grundprinzip zur An-
wendung wie für das Heer, und rücksichtlich des Heeres kann man
behaupten, daß die in der Reichsverfassung enthaltene Regelung des
Verhältnisses zwischen Reich und Einzelstaat nirgends im ganzen
Reiche unveränderte Geltung hat und auch von Anfang an gar nicht
haben sollte; denn schon bei der Feststellung der norddeutschen Bundes-
verfassung und der Reichsverfassung wurde durch vertragsmäßige Ver-
einbarungen für alle Einzelstaaten ein Zustand herbeigeführt, der für
einige derselben eine Erweiterung, für die meisten eine Beschränkung,
für alle eine Veränderung der verfassungsmäßigen Befugnisse darstellt.
Die Reichsverfassung enthält demnach gleichsam ein Idealrecht, welches
nirgends verwirklicht ist, das vielmehr nur die Normallinie bildet, um
welche sich die tatsächlich in Geltung stehenden Regeln in mancher-
lei Windungen ziehen.