Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

618 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
beurtheilen. Das Wesen der Privatrechtsstreitigkeiten, welche vor 
die Civilgerichte gehören, besteht darin, dass mehrere, wenigstens 
zwei, sich gleichstehende Persönlichkeiten über Privatrechte 
streiten, d. h. über Rechte, die sie für sich, nicht als Genossen des 
Staates oder einer Öffentlich-rechtlichen Korporation, als indivi- 
duelle Einzelrechte, in Anspruch nehmen. Auch der Staat 
kann als Fiskus in das Gebiet des Privatrechtes hinabsteigen und 
erscheint dann, nicht im Nimbus der Staatsautorıtät, sondern als 
gleichwerthige Persönlichkeit mit allen Privatpersonen. Alle 
Streitigkeiten zwischen dem Staate als Fiskus und anderen Personen 
gehören daher als Privatrechtsstreitigkeiten nach deutscher Auf- 
fassung vor die ordentlichen Gerichte; ebenso Klagen gegen öffent- 
liche Beamte, welche bei Ausübung ihres Amtes Privatpersonen 
widerrechtlich verletzt haben, wenn der Thatbestand der Verletzung 
von der Art ist. dass er sich zur Erhebung einer straf- oder civil- 
rechtlichen Klage eignet, ohne dass es hierzu gemeinrechtlich! 
! Dieser deutschen Auffassung steht die französische (neuerdings auch in 
Frankreich beseitigte' Gesetzgebung gegenüber, welche in $ 75 der Verfassung 
vom 22. Frimaire VIII. so formulirt wurde: »Les agens du gouvernement, autres 
que les ministres, ne peuvent &tre poursuivis pour des faits relatifs a leurs 
fonctions, qu’en vertu d’une decision du conseil d’etat: en cas la poursuite a lieu 
devant les tribunaux ordinaires.« Dieser Satz ging vielfach in die Gesetzgebung 
der deutschen Einzelstaaten über, besonders in die preussische, wo die Vor- 
frage, ob eine zur gerichtlichen Verfolgung geeignete Ueberschreitung der 
Amtsbefugnisse vorliege, durch Erhebung des Kompetenzkonfliktes, zur Ent- 
scheidung des Kompetenzgerichtshofes gebracht werden konnte. (Vergl. mein 
preuss. Staatsr. B. II. 8. 852.) Dagegen bestimmt jetzt das Einführungsgesetz 
zum Reichsgerichtsverfassungsgesetz $11: »Die landesgesetzlichen Bestimmungen, 
durch welche die strafrechtliche ‚oder eivilrechtliche Verfolgung öffentlicher Be- 
amten wegen der,in;Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung ihres Amtes 
vorgenommenen Handlungen an besondere Voraussetzungen gebunden ist, 
treten ausser Kraft. Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, 
durch welcheitdie,, Verfolgung der Beamten entweder im Falle des Verlangens 
einer vorgesetzten Behörde, oder unbedingt an die Vorentscheidung einer be- 
sonderen’Behörde?gebunden ist, mit der Maassgabe, 1) dass die Vorentscheidung 
auf die Feststellung beschränkt ist, ob der Beamte sich einer Ueberschreitung 
seiner Amtsbefugnisse‘ oder der Unterlassung einer ihm obliegenden Amtshand- 
lung schuldig gemacht habe; 2) dass in den Bundesstaaten, in welchen ein 
oberster Verwaltungsgerichtshof besteht, die Vorentscheidung diesem, in den 
anderen Bundesstaaten dem Reichsgerichte zusteht« Durch die Gesetzgebungen 
der einzelnen Staaten (z. B. Bayern, Gesetz vom 8. August 1878, $%. Baden, 
Gesetz vom 24. Februar 1580. Hessen, Gesetz vom 16. April 1879) ist also jetzt 
die Entscheidung der Vorfrage den Verwaltungsgerichten übertragen. Ts ist 
das eine ihrem eigentlichen Berufe fremde Aufgabe, welche ihnen lediglich aus 
Zweckmässigkeitsgründen übertragen ist, denn die Verwaltungsgerichte haben 
ihrer Natur nach öffentlich-rechtliche Streitigkeiten endgültig zu entscheiden,
	        
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