90 I. Von den Organen des deutschen Reiches.
älteren deutschen Reichsstaatsrechtes vorgeschwebt. »Der Erz-
kanzler durch Germanien« ist im Reichskanzler in moderner,
rein weltlicher Gestalt wieder auferstanden. Jener bekleidete wie
dieser eine Doppelstellung. Der Erzkanzler war nicht nur
Direktor des Kurfürstenkollegiums, sondern des ganzen Reichstages.
Nur durch ihn konnten Anliegen irgendwelcher Art an den Reichs-
tag gelangen, jede an den Reichstag gerichtete Schrift musste seine,
freilich nicht willkürlich zu verweigernde Diktatur passiren
(»dietatum per Moguntinum:). Von ihm wurden die Legitimationen
vollzogen, die Reichsabschiede und Reichsgutachten abgefasst.
Ausserhalb des Reichstages war aber der Erzkanzler
der einzige Minister des Kaisers, wenn er auch diese Funk-
tion regelmässig durch einen von ihm zu ernennenden Stellvertreter,
den Reichshofvicekanzler, wahrnehmen liess. Dass bei der Er-
richtung des norddeutschen Bundes auch hier eine Reminiscenz des
alten deutschen Reichsstaatsrechtes eingewirkt hat, zeigt schon die
Amtsbezeichnung »Reichskanzler«, welche man dem modernen
Ministertitel vorgezogen hat. Die Hauptähnlichkeit liegt in jener
Doppelstellung, welche auch im heutigen Reichskanzler wieder
auftaucht, indem er als Vorsitzender im Bundesrathe ähnliche Funk-
tionen zu versehen hat, wie der Erzkanzler im Reichstage, und eben-
so zugleich erster und einziger Minister des Kaisers ist, wie jener.
Freilich ist auch der Unterschied zwischen dem Erzkanzler von ehe-
mals und dem Reichskanzler von heute gross genug. Das Amt des
Erzkanzlers durch Germanien war mit der höchsten Würde der deut-
schen Kirche verknüpft, der Kaiser hatte kein Emmennungsrecht;
der Reichskanzler wird vom Kaiser ernannt und begleitet durchweg
eine Beamtenstellung. Er ist Reichsbeamter, wenn auch
der höchste, welcher im ganzen Reichsdienste keinen Kollegen, son-
dern nur Untergebene hat. Das ganze Behördensystem des
Reiches ist aufs strengste centralisirt. Kein Punkt der
Reichsregierung ist denkbar, welcher von dergeschäftlichen Oberlei-
tung des Reichskanzlers ausgeschlossen wäre. Es giebt im Reiche
nicht mehrere gleichberechtigte Minister, kein Gesammtministe-
rium, sondern der Reichskanzler ist Alles in Allem, das A und Oder
gesammten Verwaltung, soweit sie dem Reiche zusteht. Seine Amts-
befugniss reicht soweit wie die kaiserliche Prärogative. Der Kaiser
als das Oberhaupt der Reichsregierung ist unmittelbares Organ
des Reiches, der Reichskanzler mittelbares, indem er alle seine
amtlichen Befugnisse vom Kaiser ableitet, aber er ist ein nothwen-