4. Behördenorganismus des Reiches. 93
und zu handeln befugt ist. Der unverantwortliche Bundesrath hat
keinen verantwortlichen Minister, der ihn deckt. Der Reichskanzler
ist lediglich Minister Sr. Majestät des Kaisers, kaiserlicher
Reichsminister. Nach Artikel 17 bedürfen die Anordnungen
und Verfügungen des Kaisers zu ihrer Gültigkeit der
Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch
die Verantwortlichkeit übernimmt«. Unter Anordnungen
und Verfügungen fallen alle nur denkbaren Regierungshandlungen
des Kaisers, mit einziger Ausnahme der Akte des militärischen Ober-
befehles, nicht der Militärverwaltung. Selbstverständlich ist der
Reichskanzler auch für alle diejenigen Amtshaudlungen verantwort-
lich, die nicht vom Kaiser, sondern von ihm selbst persönlich aus-
gehen. Der Begriff der Verantwortlichkeit ist weder in der Verfas-
sung, noch in einem Reichsgesetze näher bestimmt. Man streitet
besonders darüber, ob die Verautwortlichkeit des Reichskanzlers nur
eine politisch-moralische oder eine juristische Bedeutung habe. Es
ist anzunchmen, dass jeder Artikel einer Verfassung einen Rechts-
satz aussprechen will und wirklich ausspricht. Sätze der Moral und
Politik gehören in keine Verfassungsurkunde. Daher ist auch die
Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nach der Verfassung als eine
rechtliche anzusehen!. Es besteht eine Rechtspflicht desselben,
über jeden Punkt. welcher in seine Amtsthätigkeit fällt, dem Reichs-
tage Rechenschaft abzulegen. Ausdrücklich ist er verpflichtet, über
die Verwendung aller Einnahmen des Reiches dem Bundesrathe und
dem Reichstage Rechnung zu legen zum Zwecke der Entlastung,
welche der Bundesrath und der Reichstag gewähren und versagen
! Am besten führte dies der Abgeordnete Hänel im Reichstage von 1876
'stenogr. Ber. S.101; aus: »\Was in einer Verfassung steht und bestimmt wird, ist
die Regelung eines Rechteverhältnisses. Die Verantwortlichkeit ist
nach unserer Verfassung eine juristische, rechtliche, nicht bloss eine politische
und moralische. Wir haben darauf ein wohlerworbenes Recht und dem steht eine
ganz bestimmte juristische Pflicht gegenüber. Es kann sich ganz allein darum
handeln, welche Rechte uns bereits jetzt für die Durchführung dieser Verantwort-
lichkeit gegeben sind; sie mögen in diesem Augenblicke noch begrenzt sein, sie
sind ober bereits vorhanden: sie sind in der Verfassung selbst in einer gewissen
Beschränkung anerkannt. Ich erinnere andie Verpflichtung der Rechnungslegung
von Seiten der Reicheregierung und unser Recht der Decharge, in der That ein
Mittel, um die Verantwortlichkeit, die uns garantirt ist, in einer bestimmten Form
zur Geltung zu bringen. Und ich gehe weiter, weil die Verfassung uns einmal
sagt, dass eine derartige Verantwortlichkeit der Reichsbehörde dem Reichstage
gegenüber besteht; so giebt die Verfassung auch die Zusicherung, uns diejenigen
Mittel, welche zur Durchführung der Verantwortlichkeit dienlich sind, nicht vor-
zuenthalten.