94 I. Von den Organen des deutschen Reiches.
können. Wenn der Reichskanzler aber Rechenschaft abzulegeu ver-
weigert, so hat der Reichstag allerdings kein Rechtsmittel, ihn dazu
zu zwingen. Seine Verantwortlichkeit hat daher ganz dieselbe Be-
deutung wie in der preussischen Verfassung die der Minister, wo
es der Volksvertretung ebenfalls an jedem Rechtsmittel, besonders
an der Möglichkeit, eine Ministeranklage durchzuführen, gebricht.
Hier wie dort ist die Ministerrerantwortlichkeit ein Rechtssatz, aber
eine lex imperfecta, wie es deren im Gebiete des öffentlichen Rechts
so manche giebt.
8270.
4) Stellvertretung dss Reichskanzlers'.
Artikel 15 der Reichsverfassung bestimmt: »Der Vorsitz im
Bundesrathe und die Leitung der Geschäfte steht dem Reichs-
kanzler zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist. Der Reichs-
kanzler kann sich durch jedes andere Mitglied des
Bundesrathes vermöge schriftlicher Substitution ver-
treten lassen. Diese Substitutionsbefugniss des
Reichskanzlers bezieht sich nur auf seine Stellung
als Vorsitzender des Bundesrathes, »auf die Leitung der
Geschäfte: im Bundesrathe. Hier erscheint der Vorsitzende ledig-
lich als Organ des Bundesrathes, seine Richtschnur ist die Ge-
schäftsordnung des Bundesrathes, seine Aufgabe ist es, den ver-
fassungsmässigen Willen dieser Körperschaft zum Ausdrucke zu
bringen (Hänel, a.a. O. S.32\. Darum kann er sich in dieser
Funktion auch nur durch ein anderes Mitglied des Bundesrathes
vertreten lassen. Mit Unrecht ist diese Substitutionsbefugniss des
Reichskanzlers nicht auf seine Funktionen als Vorsitzender des Bun-
desrathes beschränkt, sondern auf seinen ganzen Geschäftskreis,
der ihm als einzigem Reichsminister zusteht, ausgedehnt worden.
Es wäre ein Widerspruch, wenn der Kaiser, dessen oberster Berather
und höchster Beamter der Reichskanzler ist, den Vertreter desselben
nicht selbst ernennen sollte. Dieser Widerspruch träte um so greller
hervor, wenn man bedenkt, dass nur ein Bevollmächtigter zum Bun-
desrathe vom Reichskanzler substituirt werden kann, dessen Voll-
macht und Instruktion, sowie seine Abberufung lediglich von einer
' Für das Verständniss des Gesetzes vom 17. März 1878 (Reichsgesetzblatt
1875 S. 7—8} betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers sind besonders
werthroll die Verhandlungen des Reichstages von 1878 mit den dazu gehörigen
Drucksachen. Stenogr. Berichte 1978 ‘5. Märg, 9. 321 f. ‘9. März, S. 373 ff.
19, März‘ S. 401 ff. ‘11. Märs! S. 431 ff. Max Joel, Die Substitutionsbefugniss
des Reichskanzlers nach deutschem Staatsrechte .Hirth’s Annalen 1878 $. 402 f.;.