124 II. Von den Funktionen der Reichsgewalt.
Verorduungsrecht ist wesentlich verschieden von dem, den Einzel-
staaten verbliebenen oder vorbehaltenen selbständigen Gesetzge-
bungsrechte. \Vo den Landesregierungen ein solches Verordnungs-
recht delegirt ist, werden dieselben nicht kraft eigenen Rechtes,
sondern nur kraft einer vom Reiche übertragenen Befugniss thätig:
sie handeln innerhalb der Sphäre des Reichsrechtes, nicht des
Landesrechtes. Obgleich von einer einzelstaatlichen Regierung
ausgegangen, hat doch eine solche Verordnung dem Landesrechte
gegenüber die Kraft eines Reichsgesetzes, d. h. sie kann alle ent-
gegenstehenden Bestimmungen des Landesrechtes, selbst einer
Landesverfassung, ausser Kraft setzen. Während die eigene Lan-
desgesetzgebung sich materiell und formell nach den Grundsätzen
des Landesstaatsrechtes richtet, kann die Reichsgesetzgebung, bei
der Delegation des Verordnungsrechtes an die Einzelstaaten, auch
den Weg bestimmen, auf welchem derartige Verordnungen zu Stande
kommen sollen. Es kann von Reichswegen vorgeschrieben werden
dass eine derartige Verordnung im Wege der Landesgesetzgebung,
im Wege der landesherrlichen Verordnung oder durch Verordnung
der obersten Regierungsbehörde erfolgen soll. Nur mangels solcher
speciellen Festsetzung im delegirenden Reichsgesetze sind die ein-
zelstaatlichen Regierungen hinsichtlich der Form der zu erlassenden
Verordnung subsidiär an die landesgesetzlichen Nornen gebunden,
doch können diese nie hinsichtlich des materiellen Umfangs
des Verordnungsrechtes maassgebend sein. »Hier ist vielmehr aus-
schliesslich entscheidend, welches Maass von lefugnissen das
Reichsgesetz der Landesregierung überwiesen hat. Die Frage nach
dem Umfang dieses Verordnungsrechtes ist eine reichsrechtliche,
keine landesrechtliche. (Am schärfsten auseinandergesctzt von
Seydelin Hirth’s Annalen 1871 S. 1145.)
Die Reichsrerordnungen, welche nicht bloss Verwaltungsvor-
schriften an die Behörden enthalten, sondern wirkliche Rechtsvor-
schriften sind, müssen wie Reichsgesetze ausgefertigt und verkündigt
werden. Der Artikel 2 der Reichsverfassung, welcher die Verkündi-
gung der Reichsgesetze durch das Reichsgesetzblatt bestimmt, be-
zieht sich auf alle Gesetze im materiellen Sinne, also auch auf die
Rechtsverordnungen des Reiches, sie werden erst bindend für die
Reichsangehörigen, wenn sie im Reichsgesetzblatte verkündigt sind.
Dasselbe gilt auch von dem in Artikel 2 vorgeschriebenen Anfangs-
termin des Inkrafttreteus. Nur solche Verordnungen machen eine
Ausnahme, deren Erlass von Reichswegen den Landesregierungen