130 II. Von den Funktionen der Reichsgewalt.
und überall auch in peinlichen Sachen, Klagen wegen unheilbarer
Nichtigkeit bei den Reichsgerichten erheben werden, ebenso Klagen
wegen verweigerter oder verzügerter Justiz, wodurch bei Erfolg-
losigkeit der Beförderungsschreiben promotoriales die Sache selbst
an die Reichsgerichte erwachsen konnte. Da solchen Klagen
gegenüber kein priv. de non appellando vorgeschützt werden konnte,
so übten die Reichsgerichte ein oberstes Aufsichtsrecht über alle
Landesgerichte aus. Ebenso war anerkannt, dass die Gerichtsbarkeit
der Reichsgerichte begründet war in Fällen, wo Verbrechen wider
Kaiser und Reich begangen waren, ohne Unterschied, ob der Be-
klagte mittelbar oder unmittelbar war; auch gab es gewisse Fälle,
in welchen die Reichsgerichte mit unbedingten Strafbefehlen so-
gleich vorgehen konnten (Fiskalsachen, Landfriedensbruchsachen,
streitige Besitzsachen, Pfündungs- und Arrestsachen). Ausserdem
übte der Kaiser durch den Reichshofrath die peinliche Gerichtsbar-
keit über alle Reichsunmittelbaren, selbst über die regierenden
Fürsten aue. Nur wo es sich um die Achtserklärung oder die Ent-
setzung eines Landesherrn handelte, hatte der Reichshofrath bloss die
Instruktion des Verfahrens, während die Entscheidung dem Reichs-
tage vorbehalten war. Teberhaupt war der Reichstag mannigfach
berechtigt, Gerichtsbarkeit auszuüben; ja, es gab Fälle, wo die Ge-
setze selbst die Yerweisung einer Sache an den Reichstag vorschrie-
ben (bei der itio in partes der beiden Religionsparteien in den
Reichsgerichten, bei der Nothwendigkeit einer authentischen Inter-
pretation der Reichsgesetze). Noch bedenklicher war die Kabinets-
justiz, welche der Kaiser durch das »votum ad imperatorems beim
Reichshofrathe üben konnte (B.1.S.61). Auch war der Dualisınus der
beiden nebeneinander stehenden Reichsgerichte ein entschiedener
Tebelstand. Dagegen war es wichtig, dass die Reichsgerichte nicht
bloss auf rein bürgerliche Rechtsstreitigkeiten beschränkt waren,
sondern auch eine weitgehende Zuständigkeit auf dem Gebiete des
öffentlichen Rechts besassen. Fürstliche Successionssachen, Ver-
fassungsstreitigkeiten zwischen Landesherrn und Landständen ge-
hörten unzweifelhaft vor die Reichsgerichte. Ja, trotz mancher
Erschwerungen, blieb es bis zum Ende des Reiches anerkannt, dass
auch Klagen der Unterthanen und Landstände wegen Missbrauchs
der landesherrlichen Gewalt an die Reichsgerichte gebracht werden
konnten. Die deutschen Reichagerichte übten daher, ähnlich wie
die englischen Reichsgerichte, die oberste Rechtskontrolle der Ver-
waltung aus, sie waren zugleich Verwaltungsgerichte oberster Instanz